Die schwierige dritte Platte: Squid erweisen sich mit "Cowards" als kreative Klang-Forscher auf riskanten Wegen.
Das Quintett Squid, das 2016 in Brighton gegründet wurde, scheint mit ihrem dritten Album "Cowards" nach Orientierung zu suchen. Es ist uneinheitlich-vertrackt ausgefallen, verzichtet weitestgehend auf längere Melodiebögen und auf markante, herausstechende Tracks. Vor allem aber ist das Werk herausfordernd, originell und auf eine köstliche Art widerspenstig. Es hinterlässt den Eindruck eines tragisch-bizarren Schauspiels in neun Akten, das nicht durch ausschweifende Aggressionen provoziert, sondern durch sperrige, zerrissen wirkende Musik. Die Incredible String Band ist mit ihrem Tanztheater-Werk "U" 1970 auch solch einer Herausforderung gefolgt und die dritte, ungewöhnliche Platte der Dexys Midnight Runners ("Don`t Stand Me Down", 1985) sorgte ebenfalls für Verwirrung bei den Fans. Zwei Beispiele für eine mutige, aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk und der künstlerischen Entwicklung. Squid stehen nun auch an solch einer Position, die richtungsweisend für ihren weiteren Weg ist.
Inhaltlich setzt sich die Band mit dem Bösen, der Verblendung und dem Zweifel auseinander, die in unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. "Crispy Skin" spielt in einer Welt, in der Kannibalismus einen regulären Platz in der Gesellschaft hat. Der Sänger und Schlagzeuger Ollie Judge vermutet, dass er in diesem Konstrukt die Rolle eines Feiglings einnehmen würde, was zum Beispiel einen Bezug auf den Album-Titel darstellt. Der Synthesizer erzeugt zu Beginn Töne, die an wild gewordene Insektenschwärme erinnern. Bass und Schlagzeug übernehmen dann mit massiven, eiligen Beiträgen die Führung, und Ollie singt, als wolle er jemandem durch seinen seltsamen Gesang Angst einflößen oder ihn intensiv manipulieren. Tempo, Instrumentierung und Dynamik sind hier keine festen Größen, wodurch der Track in rauschhafte Gefilde eintaucht.
"Building 650" atmet zwischendurch orientalische Luft, ohne Weltmusik zu sein. Ein experimenteller Art-Rock-Ansatz behält die Oberhand und zerstört alle Rock-Konventionen - so wie es typischerweise von Squid erwartet wird. Aber der Song versinkt dadurch nicht in Anarchie, sondern baut eine individuelle, bröckelige Melodik auf. Es geht ganzheitlich um die Bewältigung von Konflikten. Textlich steht die Beziehung zu einem Menschen mit schlechtem Charakter im Vordergrund.
"Blood On The Boulders" lässt die Morde der Charles-Manson-Gefolgsleute an der schwangeren Schauspielerin Sharon Tate und ihren Freunden am 9. August 1969 in Los Angeles aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters aufleben. Das Stück beginnt mit lyrisch-empathischen, sich hypnotisch wiederholenden Passagen, die die Einleitung zu einer sich bis in den Irrsinn hinein steigernden Sequenz bilden. Plötzlich fällt alles in sich zusammen und die bedrückende Intimität lässt einen schaudern.
Für "Fieldworks I" wird der Klang eines manipulierten Cembalos prominent herausgestellt. Der Klassik-Mief, der ursprünglich mit dem Instrument verbunden ist, wurde dabei eliminiert, sodass die Töne jetzt wie eine Mischung aus Xylophon und E-Piano klingen. Im letzten Drittel ziehen bedrohliche Streichinstrumente auf, die die Exotik verdrängen und für Panikstimmung sorgen.
Das Klicken in "Fieldworks II" suggeriert eine übermäßig schnell dahinfließende Zeit, was durch den eher schläfrig-nachdenklichen Gesang abgefedert wird. Die Rhythmik ist zäh, während Geigen und Saiteninstrumente Schwung aufnehmen. Zum Ausklang folgt eine Phase, die beinahe zum Stillstand führt. Der Kontrast ist Kalkül und gehört in diesem Fall zum variablen Programm.
"Cro-Magnon Man" ist die Bezeichnung für den anatomisch modernen Menschen des westlichen Eurasiens, der in der Zeit von vor 45.000 bis vor etwa 12.000 Jahren lebte und für uns in gewisser Hinsicht ein Vorfahre ist. Aber sein Gehirn hat sich womöglich aufgrund von Veränderungen in der Ernährung oder Lebensweise nicht so stark entwickelt wie das des Homo-Sapiens und deshalb konnte er keinen dauerhaften Platz in der Evolution beanspruchen. Aber vielleicht wäre er aufgrund von anderen geistigen Fähigkeiten nicht so egoistisch mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen umgegangen, wenn er nur eine Chance gehabt hätte. Für das Lied begeben sich die Squid-Musiker quasi auf einen musikalischen Abenteuer-Spielplatz, auf dem der Einsatz von unkonventionellen Klängen zum guten Ton gehört. Neben diesem Gebot verfügt der Song noch über eine stabile Melodieführung, die jegliche Extravaganz ausgleicht und entschärft.
Das titelgebende Stück "Cowards" ist emotional dreigeteilt. Der erste Teil bleibt unverbindlich, wobei eine verwaschene, neblig-intime Atmosphäre mit schwirrenden Zwischentönen erzeugt wird. Es folgt ein durch Soul-Bläser und -Stimmen lebendig gehaltener Abschnitt. Der Track klingt danach durch einen Mix aus den ersten beiden Darstellungen aus.
"Showtime!" präsentiert sich angriffslustig, setzt dazu alternative Funk-Spielarten und Minimal-Art-Rhythmen ein, die sich im Verbund gegenseitig anstacheln und den Song, der sich mit "Ausbeutung, Ego und Missbrauch" befasst, auf diese Weise brodeln lässt.
"Well Met (Fingers Through The Fence)" entzieht sich vollständig der Einordnung in irgendwelche Stil-Kategorien. Die verwendeten Bestandteile werden ineinander verschoben zusammengesetzt. Von zärtlich bis stressig, intim bis opulent, gleichförmig bis verwirrend sind viele Schattierungen dabei. Der Song erkundet laut Gitarrist Anton Pearson die "Beziehung zur Landschaft und zu allen Dingen, die uns am Herzen liegen".
Sind das noch (im weitesten Sinn) Pop-Songs oder handelt es sich bei den Stücken von "Cowards" um Klang-Installationen? Wenn man schon eine Umschreibung sucht, dann trifft wohl der Begriff "Kunstlied" ganz gut auf die Kreationen zu. Neben Bands wie Black Country, New Road gehören Squid zur Speerspitze junger und mutiger britischer Avantgarde-Rock-Formationen, die ihre Ideen clever und fantasievoll in Szene setzen können. Das führt dazu, dass trotz spielerischer Experimentierlust ein hoher Unterhaltungswert gewährleistet ist und erhalten bleibt.
Es ist angebracht, dass "Cowards" zunächst mit Kopfhörern genossen werden sollte, damit alle Nuancen wahrgenommen und in einen Zusammenhang gebracht werden können. Das ist anspruchsvoll, aber es lohnt sich, sofern man sich auf komplexe Musik einlassen mag. Als der Vorgänger "O Monolith" am 9. Juni 2023 veröffentlicht wurde, war "Cowards" schon formal fertiggestellt gewesen. Das Album hat also einen relativ langen Reifeprozess hinter sich und hält für Neugierige eine Menge Überraschungen und Ideen bereit.