Neue Songs nach 21 Jahren Pause: Ist Peter Gabriels Musik noch zeitgemäß?
Gründer und Sänger von Genesis, Solo-Megastar und Erfinder des WOMAD Musik-, Kunst- und Tanz-Festivals: Das sind nur drei Eckpfeiler in der bewegten Karriere von Peter Gabriel, der im Februar 2023 seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag feierte. Er blieb seit 1977 über die Jahre durch Tourneen im Gespräch, machte sich aber in der letzten Zeit rar, was neues Songmaterial angeht.
Deshalb ist die physische Veröffentlichung von "i/o" am 1. Dezember 2023 schon eine kleine Sensation, denn es ist das erste Werk mit frischen Liedern seit "Up" aus 2002. Herausgekommen ist eine umfangreiche Werkschau von 12 Songs in zwei unterschiedlichen Mixen auf CD und Vinyl (Bright-Side- und Dark-Side-Abmischung) nebst einer zusätzlichen, exklusiven Dolby-Atmos-Version auf Blu-ray-Audio. Digital wurde bereits ab Januar 2023 zu jedem Vollmond ein aktueller Titel bereitgestellt, sodass die offizielle Publikation jetzt "nur noch" eine Zusammenfassung und Ergänzung darstellt.
Das reguläre Werk beginnt mit dem Song "Panopticom". Ein Panoptikum ist sowohl die Bezeichnung für ein Kuriositätenkabinett, als auch ein Konzept zur Überwachung vieler Menschen durch einzelne Personen. Dies wurde vom Philosophen Jeremy Bentham um 1791 herum entwickelt und sollte unter anderem als Vorlage für den Bau von Gefängnissen genutzt werden. Peter Gabriel wandelt nicht nur diesen Begriff in "Panopticom" um, sondern ändert auch die Philosophie. Er meint, dass frei verfügbare Informationen und somit der Zugang zum Wissen der Welt zu mehr Freiheit für das Individuum und damit zu einer effektiveren Demokratie führt. Es wird also die ursprüngliche Definition umgedreht, weil die Macht der Bildung mündige Bürger hervorbringt, die sich nicht mehr kritiklos alles von den Herrschenden gefallen lassen. Musikalisch liegt eine beruhigende Seriosität über dem Song, die oft durch die aktive Rhythmik verschleiert wird. Vermittelnde und antreibende Elemente halten sich die Waage und erzeugen konstruktive Gegensätze, die dem Track einen hinreißenden Ohrwurm-Sog verleihen. Der Dark-Side-Mix unterscheidet sich davon hauptsächlich durch einen härteren Drum-Beat.
Ein Prinzip von Peters Musik war es stets, akustische und elektronische Töne nebeneinanderzustellen. Außerdem ist er ständig auf der Suche nach interessanten Sounds, die der Umwelt entliehen oder selbst hergestellt sind. Diese Kombination wird auch für "i/o" genutzt. Elektronische Töne klingen dabei warm und akustische Instrumente nicht antiquiert. Diese gegenseitige Annäherung der unterschiedlichen Klangstrukturen macht einen erheblichen Reiz der Tongestaltung aus.
Das Verfahren der technisch-harmonischen Sound-Kollagen wird bei "The Court" attraktiv demonstriert: Verfremdete Steel-Drums, transparent aufgebaute Polyrhythmen, verschachtelte Melodie-Linien und spontan wirkende Tempo-Wechsel sprechen eine eindeutige Sprache für die Ausgestaltung origineller Song-Abläufe, wobei das Thema Gerechtigkeit inhaltlich der zentrale Bestandteil des Liedes ist. Der Dark-Side-Mix des Stücks grenzt sich unter anderem durch eine hymnische Background-Gesangs-Einlage vom Bright-Side-Mix ab.
Gabriel kann mit seinem Gesang wehmütige Momente heraufbeschwören, die zu Tränen rühren. So wie bei "Playing For Time", einer Piano-Ballade mit sehnsüchtigen Streichern und erdigen Bass-Tupfern. Das Lied "handelt von Zeit, Sterblichkeit und Erinnerungen – also von der Idee, dass jeder von uns einen ganzen Planeten voller Wahrnehmungen in sich hat", erklärt Gabriel. Er geht auch der Frage nach, "ob wir Gefangene der Zeit sind". Das feierliche Stück besitzt zurückhaltende und sich aufbäumende Momente, die zu einer enormen Dynamikabstufung führen.
"i/o" bedeutet "Input/Output" oder auch "An/Aus". Peter denkt in diesem Zusammenhang über physische und psychische Transformationen nach und dass alle natürlichen Vorgänge auf der Erde irgendwie miteinander verbunden sind. Diesen metaphysischen Ansatz steckt er in einen Pop-Song, der sich langsam entwickelt, dann aber plötzlich mächtig und ekstatisch in verzückende Höhen abhebt.
"Four Kinds Of Horses" verbreitet eine düstere Dramatik, die sich durch das gesamte Lied zieht. In der buddhistischen Lehre gibt es ein Gleichnis von vier Pferden, die vier unterschiedliche spirituelle Wege aufzeigen. Der Song bezieht sich indirekt auf diesen Ansatz und weist auf den Konflikt zwischen friedvollen und gewalttätigen Ansätzen in der Auslebung von Religionen hin. Der Track verbreitet instrumentell eine bedrohliche Unruhe, die Peter beschwichtigt. Er sorgt andererseits manchmal gesanglich mit aufgekratzten Schwingungen für eine Verstärkung der gefahrvollen Stimmung. Somit bildet er quasi die Schnittstelle zwischen Vernunft und Fanatismus ab. Diese Spannungen werden im Dark-Side-Mix noch etwas deutlicher herausgearbeitet.
Das Format von "Road To Joy" spricht sowohl Classic-Rock- als auch Alternative-Disco-Liebhaber an. Es ist eine Rückbesinnung an die Zeit, als Peter Gabriel mit dem deftig auftrumpfenden "Sledgehammer" 1986 die Charts eroberte und wirkt deshalb gleichzeitig zeitlos wie auch altmodisch. In dem Lied geht es um eine Person, die nach längerer Zeit im Koma zurück ins Leben findet. Als Co-Produzent und Begleit-Musiker wirkt Brian Eno mit, der sich nebenbei als verständiger Groove-Initiator betätigt.
Entspannt und in sich gekehrt läuft "So Much" ab, auch wenn zum Ende hin das Raunen, Schwirren und Pfeifen etwas anschwillt. Der ehrfürchtig klingende Song wurde wohl schon um 2015/2016 herum geschrieben und handelt unter anderem davon, dass die von uns individuell gesteckten Ziele aufgrund von limitierter Zeit gelegentlich nicht zu verwirklichen sind.
"Olive Tree" möchte gute Laune und Optimismus verbreiten, verzettelt und verheddert sich aber in einem plump animierenden Sound, der im Gegensatz zu fast allen anderen Tracks aufgeblasen und unangebracht aufdringlich daherkommt. Deshalb bleibt in dem sonstigen, kultiviert wirkenden Umfeld ein eigenartiges Störgefühl zurück. Der Eindruck ist eventuell deshalb so hemmungslos lebhaft, weil der überwältigende Wohlfühlfaktor, der sich bei der Verbindung mit der Natur ergibt, akustisch abgebildet werden soll.
Peter Gabriel gefällt sich häufig in der Rolle des nachdenklich-intellektuellen Beobachters. So auch bei "Love Can Heal", dessen Botschaft sich schon aus dem Namen ergibt. Versponnen, geheimnisvoll und idyllisch umgarnen sanft-verführerische Töne die Sinne und Peter singt dazu betont freundlich und gutmütig.
Etwas hüftsteif hört sich der zum Tanz animierende Takt von "This Is Home" an. Er kommt hinsichtlich einer eleganten Aufforderung zur Bewegung nicht so richtig aus dem Quark - ist also weder Fisch noch Fleisch, wenn es um die Tanzbodentauglichkeit geht. Es gelingt allerdings trotzdem, eine erwartungsvolle, positiv gestimmte Grundhaltung zu transportieren, weil Peter - wenig überraschend - mit dem Begriff Heimat sowohl Liebe als auch Geborgenheit verbindet.
Niederschmetternd bedrückend beginnt "And Still", das von Tod und Einsamkeit berichtet. Der satte Beat holt die Nummer bald darauf aus der Trübseligkeit heraus und die Streichinstrumente klingen im weiteren Verlauf trotz ihrer Schwere sogar manchmal nach Sonnenaufgang statt nach Sonnenuntergang. "The Hour Of Not Quite Rain" von Buffalo Springfield scheint auf "To Be By Your Side" von Nick Cave zu treffen. Das süße Aroma der Melancholie lädt zum Grübeln oder Meditieren ein: "Bonjour Tristesse".
"Frieden entsteht nur, wenn man die Rechte der anderen akzeptiert" ist ein Denkansatz, den Peter Gabriel für sich übernommen hat und der "Live And Let Live" zugrunde liegt. Vorsichtig zuversichtliche Klänge unterstreichen dieses Bekenntnis, wobei die Musik zusätzlich ein erhebendes Gemeinschaftsgefühl und nach und nach sogar Lebensfreude verbreitet. Auf- und abschwellende Keyboard-Schwaden werden in einen straff swingenden Rhythmus überführt, den zackige und weichzeichnende Streicher harmonisch auffüllen.
Mit dem Album "i/o" bewegt sich Peter Gabriel auf vertrautem Terrain. Die Fans bekommen, was sie erwarten durften: Dunkel dräuende und erhabene Pop-Songs mit hohem Melancholie- sowie Pathos-Faktor und kontrastreichen Arrangements. Böse Zungen werden eine fehlende Weiterentwicklung kritisieren, Verehrer die Kontinuität begrüßen. Gabriels Kompositionen werden oft dicht und üppig, mit etlichen Tonspuren und unterschiedlichen Klangfarben gestaltet. Die Kunst dabei ist, die Lieder trotzdem nicht mit Eindrücken zu überfrachten - was nicht immer, aber meistens gelingt.
Stramme Rhythmen beherrschen zeitweilig dieses Konstrukt, was je nach Auffassung als unsensibel oder erregend angesehen werden kann. Gabriel hat bisher einige lange nachhallende Songs wie "San Jacinto" oder "The Drop" vollbracht. Aber es sind auch Lieder darunter, die selbst nach längerer Hör-Abstinenz nicht aus der Mittelmäßigkeit herauskommen, wie "DIY" oder "Shock The Monkey".
Der englische Superstar feilte akribisch an seinen neuen Songs, änderte immer wieder Zusammensetzungen und brachte neue Ideen ein. Solch ein Vorgehen kann leicht zu einer Überproduktion führen - hat es aber nicht, weil der erfahrene Musiker diese Gefahr erkannte und die Endabmischung folgerichtig in versierte Hände legte. Den Bright-Side-Mix besorgte Mark "Spike" Stent, den Dark-Side-Mix vollbrachte Tchad Blake und den Inside-Mix in Dolby-Atmos erdachte Hans-Martin Buff. Die aktuellen Songs sind in der Regel reichhaltig mit Klangfarben ausgestattet worden, behalten aber dennoch eine durchlässige Struktur mit Raum zum Atmen. Thematisch wird gerne ein spiritueller Überbau mit humanistischen Grundgedanken verwendet, das ist zeitlos und zwingt oft dazu, um die Ecke zu denken.
Fazit: "i/o" ist klanglich ein Vergnügen, sowohl für Audiophile als auch für den verwöhnten Nebenbei-Hörer. Kräftig, klar, vollmundig und gleichzeitig transparent schallen die Töne aus den Lautsprechern. Das ist ein Genuss, genauso wie die Umsetzung der vielfältigen Ideen der meisten Songs. Das Werk zeigt Peter Gabriel in Reinkultur und einwandfreier Form. Es sind jedoch keine bedeutenden Entwicklungsschritte im Vergleich zu seinen bisherigen Solo-Arbeiten wahrzunehmen. Manchmal finden offensichtliche Rückblicke auf das bisherige Schaffen statt, dennoch fällt das Album nicht aus der Zeit und hat auch heute sowohl inhaltlich als auch musikalisch seine Berechtigung. Damit nicht genug: Es handelt sich bei "i/o" eigentlich um ein Gesamtkunstwerk, denn jedem Song wird ein Objekt zugeordnet, das unterschiedliche Künstler beisteuern: So kam als Illustration von "Panopticom" das beleuchtete Gebilde "Red" aus Acryl und Plexiglas von David Spriggs aus dem Jahr 2019 infrage und für "Road To Joy" steuerte Ai Weiwei das Gemälde "Middle Finger In Pink" bei.
Die Bright- und Dark-Side-Mixe unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander und sind vom Klangbild her nicht wörtlich zu nehmen, denn sie wurden atmosphärisch nicht gegeneinander abgegrenzt. Es ist allerdings interessant, die unterschiedlichen Klangauffassungen miteinander zu vergleichen. Das Warten auf "i/o" hat sich gelohnt. Peter Gabriel hat seine Relevanz unter Beweis gestellt. Der angebliche Art-Pop-Dinosaurier ist erwacht und erinnert mit herausragender Qualität an seine Einmaligkeit. Willkommen zurück!