Deutschsprachige Pop-Musik mit Haltung, Witz und Poesie.
Mine wurde am 19. Januar 1986 als Jasmin Stocker geboren und wuchs in der Nähe von Stuttgart auf. Schon als Kind genoss sie eine Musikerziehung und nahm an Gesangswettbewerben teil. Mit 20 Jahren studierte sie Jazz-Gesang und absolvierte anschließend ihr Master-Studium an der Pop-Akademie Baden-Württemberg im Fach Producing und Composing. Unter ihrem Spitznamen Mine fand dann 2013 die erste Tournee statt und es erschien simultan die EP "Herzverleih". Daneben gab es auch Auftritte im Vorprogramm von z.B. Lukas Graham, Dear Reader oder Enno Bunger.
2014 brachte sie mit "Mine" ihr erstes Solo-Album raus und 2016 folgte mit "Das Ziel ist im Weg" der Nachfolger. 2017 gab es eine gemeinsame Aufnahme mit dem Rapper und Schauspieler Fatoni unter dem Namen "Alles Liebe Nachträglich". 2018 wurde der Konzert-Mitschnitt ("Mine und Orchester (Live in Berlin)") als Crowdfunding-Aktion veröffentlicht und 2019 kam ein neues Studioalbum ("Klebstoff") auf den Markt. Im März 2021 räumte Mine den Deutschen Musikautorenpreis der GEMA in der Kategorie "Text Chanson/Lied" ab. Das ist eine beachtliche Auszeichnung und die Aufzählung des Tonträger-Werdegangs zeigt eine konsequente Verfolgung der eigenen Karriere. Sowas geht nicht ohne Durchhaltevermögen und Talent.
Mine setzt sich bei ihrer Platte "Hinüber", die am 30. April 2021 erscheint, stilistisch offenbar zwischen alle Stühle. Sie gehört weder eindeutig der Fraktion der aktuellen Schlager-Stars oder Electro-Popper, noch einem Neue Deutsche Welle-Retro-Trend oder der Liedermacher-Szene an. Obwohl es kleine Schnittmengen zu diesen Genres gibt, sind es vor allem die Künstler, die sich ihre Individualität bewahren wollen und alternative Ausdrucksformen suchen, die als Anregung geltend gemacht werden können. Wie zum Beispiel Sophie Hunger (die einen Gastautritt hat), Balbina, Dota, Karl die Große, Lydia Daher, Cäthe oder Alligatoah.
Für “Hinüber” wurden zehn Lieder verfasst, die ihre Inspiration aus dem HipHop, dem Electro-Pop, dem Kunstlied oder der alternativen Folk-Bewegung ziehen und als Ganzes den Eindruck vermitteln, dass die Suche nach einem persönlichen Ausdruck bei Mine noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Genau deshalb zelebriert die professionelle Künstlerin für uns ein quirliges Sammelsurium an Eindrücken, Stimmungen, Experimenten und Nichtigkeiten, die zwar nicht zusammen passen wollen, aber eine Bandbreite von Möglichkeiten aufzeigen, die von Mine erforscht und kreativ gestaltet werden. Ihre Lyrik scheint konkrete Sachverhalte anzusprechen, bleibt aber oft in der Mitte stehen. Es werden Gedanken angerissen, ohne Lösungen bereit zu stellen. Der wache Geist der Hörer und Hörerinnen ist gefordert, damit ein Weiter- und zu Ende denken stattfinden kann.
Den Anfang macht der Track "Hinüber" mit der Gleichgesinnten Sophie Hunger als Gesangs-Unterstützung. Dunkel gefärbte Streicher vermitteln Ernsthaftigkeit, dröhnende Bässe sorgen für Dramatik und rhythmisch vertrackte Schlaginstrumente verpassen dem Stück eine mächtige, dominante Komponente. Dieses rätselhafte, stilistisch diffuse Chanson setzt ein anspruchsvolles, attraktives Ausrufezeichen. Thematisch geht es um große Probleme unserer Zeit, wie die Umweltzerstörung ("Das Meer ist aus Plastik..."). Denn wenn nicht endlich ein Umdenken in Richtung qualitatives, statt quantitatives Wachstum geschieht, dann ist sowieso bald alles hinüber. Mit dem nötigen Engagement können wir uns aber auch gemeinsam in eine Welt hinüber retten, in der eine humane Gesellschaft nach ökologischen Grundsätzen in Frieden lebt.
Ein hüpfender, elektronisch erzeugter Takt muntert "Bitte bleib" auf, das als Kontrast dazu von überwiegend melancholisch veranlagtem Gesang getragen wird. Der Text zeigt zunächst in die falsche Richtung: "Bitte bleib, bitte bleib" lässt eine verzweifelte Trennungs-Situation vermuten, aber dann folgt: "Bitte bleib nicht wie Du bist" und so wird aus dem vermeintlichem Klammern ein Aufruf, über die eigenen Unzulänglichkeiten nachzudenken.
"KDMH" ist die Abkürzung für "Kannst Du mich halten?". Diese Frage wird auch prompt mit "Kannst Du nicht" beantwortet. Das ist ein Zeichen dafür, dass Geborgenheit gesucht und vermisst, aber nicht gefunden wird. "Ich habe keinen Boden, keinen Grund, keinen Grund zu gehen", sind die um Hilfe rufenden Worte der Protagonistin. Anscheinend fehlt die Zuversicht, eine stabile Zukunft erwarten zu können. Die Textinhalte spiegeln also Aussichtslosigkeit wider. Als Untermalung dazu dienen stumpfe, monotone Beats, die die emotionale Ausnahmesituation drastisch aufbereiten. Weitere Textpassagen lassen vermuten, dass ein Suizid(versuch) beschrieben wird. Die Musik blüht dazu üppig auf und wird spannungsgeladen aufgebauscht. Dann bricht sie abrupt ab. Es bleibt das Schlimmste zu befürchten...
Die ausgebildete, stabile, ausdrucksstarke Stimme von Mine klingt bei "Mein Herz" traurig, sehnsüchtig, wütend und betörend. Sie bleibt jedoch bei jeder Regung voluminös, beweglich und klar. Die sentimentale Ballade zieht alle Register, um den Wehmut einer gescheiterten Beziehung aus Sicht der verlassenen, gekränkten Person so nahbar und authentisch wie möglich erscheinen zu lassen.
Was ist ein "Audiot"? Nach der Auffassung dieses provokanten Liedes ist das offensichtlich jemand, der ständig von Musik, Podcasts, Hörbüchern und anderen audiophilen Reizen umgeben ist und sich davon über Gebühr lenken und verzaubern lässt. Aber wenn eine Meinung zum Dogma wird, kann das zu einer intoleranten Haltung führen. Die Rapper Dexter und Crack Ignaz geben ihren Senf zu diesem Thema dazu und machen aus diesem HipHop-Pop mit Jazz-Grooves quasi ein Mini-Hörspiel.
Ist "Eiscreme" wirklich ernst gemeint oder handelt es sich bloß um eine Parodie des Songs "Like Ice In The Sunshine" von Beagle Music Ltd., mit dem in den 1980er Jahren der Verkauf von Speise-Eis einer bestimmten Firma in den Kinos angekurbelt werden sollte? Genauso sonnig-naiv wie der damalige Werbe-Jingle ist nämlich auch hier der Refrain gestrickt. Unbekümmert und einfach rauscht dieser Electro-Pop vorbei, ohne anspruchsvolle Spuren zu hinterlassen. Es muss auch mal was Positives raus in die Welt, mag sich Mine gedacht haben, als sie dieses leichte Lied erfunden hat. Diese Einstellung gilt wohl auch für "Lambadaimlimbo". Das Stück erinnert aufgrund seiner seichten, unspezifischen Urlaubsatmosphäre an den Neue Deutsche Welle-Hit "Carbonara" von Spliff - der ehemaligen Begleit-Band von Nina Hagen - aus dem Jahr 1982.
Auch "Elefant" klingt nach den 1980er Jahren. Nämlich nach einer Produktion von Trevor Horn, der gerne einen peitschenden Beat nach vorne gemischt und den Sound durch allerlei Klangfarben bunt ausgefüllt hatte. Und ein packender Refrain musste auch noch eingebaut werden. So wie es bei "The Lexicon Of Love" von ABC um Martin Fry 1982 praktiziert wurde. "Elefant" ist ein netter Electro-Pop fürs Radio geworden, der auch zur Untermalung von Sport-, Spiel- und Freizeitaktivitäten geeignet ist. Unkompliziert, aber nicht unsympathisch.
Mit ordentlich Wumms in den Bässen geht es dann bei "Tier" weiter, wobei dieses Stück tiefschürfende Gedanken aufgreift: "Der Unterschied zwischen mir und einem Tier ist, dass ich fragen kann, was will ich hier. [...] Und ich sehe, was mir durch die Hände fällt und ich frag mich, was mich noch am Leben hält. Ist es nur die Sucht am Leben selbst?". Aktuelle Sinn-Fragen kollidieren im Folgenden mit Ratschlägen, die im Rahmen der Erziehung verinnerlicht wurden, was zu Konflikten führt. Diese Ballade wird durch tröstende Streicher und sakrale Orgelklänge gestützt, so dass die pumpenden Bässe in diesem Zusammenhang wie ein unruhiger, von Unsicherheit begleiteter Herzschlag klingen.
Mit "Unfall" präsentiert Mine ein Lied, das akustische und elektronische Elemente attraktiv miteinander ausbalanciert und gegeneinander verbiegt. Es findet ein dynamischer Prozess statt, der sich sowohl sperrigen Folk-Rock, Drum & Bass-Hektik, Science-Fiction-Soundtrack-Flirren und Klassik-Seriosität einverleibt. Der Track macht indirekt darauf aufmerksam, dass aufgrund der derzeit vorherrschenden Pandemie-Nachrichtenlage viele andere Probleme nicht ins richtige Licht gesetzt werden können.
Immer dann, wenn Mine musikalische Welten kollidieren lässt und sich dabei Schwierigkeiten vornimmt, ist sie am wirkungsvollsten. Dann blühen ihre erlernten und wahrscheinlich inzwischen verinnerlichten Producing- und Composing-Künste voll auf und erstrahlen in schillernd leuchtenden Farben, zeigen sich in verblüffenden Formen und erhellen die Ohren mit phantasievollen Klang-Lichtern. Einfacher strukturierte Sachen wie "Eiscreme" oder "Lambadaimlimbo" fallen dagegen ab, wenn eine homogene, ernsthafte Darstellung der Musik erwartet wird. Sie stören zumindest den Fluss eines durchgängig anregenden und dabei sensiblen Ablaufs.
Die konträren Gestaltungsebenen unterstützen die eingangs getätigte Vermutung, dass sich Mine noch auf der Suche nach dem alles erleuchtenden Musenkuss befindet. Aber sie sorgt schon heute erfreulicherweise dafür, dass sich ihre vielfältige deutschsprachige Musik nicht zu stromlinienförmig bewegt. Und wenn ihr sprudelndes Talent mit einem künstlerisch wertvollen Konzept zusammentrifft, entstehen poetisch nachhaltig wirkende Lieder, die sich in einem musikalisch umtriebigen Umfeld ihren Weg durch struppiges Gelände bahnen. Es bleibt spannend, in welche Richtung(en) sich die Musikerin in Zukunft entwickeln wird, denn sie hat ihr Potential noch lange nicht ausgeschöpft.