King Hannah gestalten mit "Big Swimmer" ein kontrastreiches Yin- und Yang-Abenteuer.
Das erste Mal begegneten sich die Künstler Craig Whittle und Hannah Merrick 2015. Damals besuchte Craig eine Konzertveranstaltung mit mehreren Bands und Solo-Acts, aus denen nur Hannah mit ihren emotional aufgeladenen Folk-Songs herausragte. Craig wurde sofort von der lässig-lasziven Stimme in den Bann gezogen, zu einer Zusammenarbeit kam es damals aber nicht. Wie der Zufall es wollte, begannen beide zwei Jahre später in derselben Bar in Liverpool zu arbeiten. Vor der Schicht musizierten sie gemeinsam, wobei schnell klar war, dass Hannah für den Lead-Gesang und Craig für die Gitarren und Arrangements zuständig war. Eckpfeiler der musikalischen Inspirationen waren dabei Mazzy Star und Portishead. Die Einflussgrößen nahmen aber schnell zu und als Sound kristallisierte sich ein Gebilde aus psychedelischem Folk und harschem Garagen-Rock heraus, an dem seither ständig gefeilt wurde.
Die Geburt von King Hannah war vollbracht, die erste Veröffentlichung, die Single "Crème Brûlée" ließ aber noch zwei Jahre auf sich warten. Dann ging es jedoch Schlag auf Schlag: Das Berliner Label "City Slang" wurde auf das Duo aufmerksam, nahm es im Folgejahr unter Vertrag und brachte unter anderem im Oktober 2020 die EP "Tell Me Your Mind And I'll Tell You Mine" und im Februar 2022 das Album "I'm Not Being Sorry, I Was Just Being Me" heraus.
"Big Swimmer" erscheint am 31. Mai 2024 und ist der zweite Longplayer der Band, die noch um ein verlässliches Rhythmus-Team (Jake Lipiec am Schlagzeug und Connor O`Shea, der Bass und Keyboards spielt) ergänzt wird. Die Songs wurden während einer USA-Tournee geschrieben, was nicht nur einen psychologischen Einfluss auf die Gestaltung hatte, sondern auch musikalische Anregungen hervorrief, die sich wesentlich auf die Umsetzung auswirkten. Dazu gehörten einige Singer-Songwriter aus dem Folk-Bereich, aber auch Idole wie The Velvet Underground.
Der in die kontrastreiche Klangwelt einführende Song "Big Swimmer" hält schon einiges der Bandbreite von King Hannah bereit: Nach einem verhaltenen Beginn steigert sich das Lied über einen coolen Folk-Rock-Übergang zu einem zerrend-schleifenden Rocker, um dann wieder in einen ruhigeren Verlauf zurückzufinden. Hannah Merrick behält ihren betörenden Gesang in jeder Phase bei, lässt sich nicht vom stetigen Dynamikaufbau der Instrumentalisten beeindrucken und demonstriert damit Charakter, Überblick und eine selbstsichere Eigenart. Die Poesie kann als Einstufung der Risikobereitschaft, die jeder bereit ist einzugehen, verstanden werden: "Wenn der Fluss fließt und die Mündung zu ihrem Ende gekommen ist, schwimmst du weiter oder springst du raus und nimmst dein Handtuch?", heißt es da.
Zu erotisch aufgeladenem Sprechgesang zündet "New York, Let's Do Nothing" ein giftig züngelndes, röhrendes Feuerwerk an schmutzigem, gitarrenlastigem, herrlich unbeherrschtem Underground-Rock, wie man ihn unter anderem von Eleventh Dream Day oder Eric Ambel kennt.
Die Noten von "The Mattress" scheinen die Gefahr zu erkunden, die sich hinter dunklen Straßenecken verbergen kann und suhlen sich in der seltsamen Anziehungskraft von schäbigen Etablissements. Hannahs Gesang wirkt geheimnisvoll, was durch das Langziehen einiger Wörter noch verstärkt wird. Die E-Gitarre stichelt hinterlistig oder schäumt vor Wut. Jedenfalls setzt sie sich auffällig und frech in Szene, während Bass und Schlagzeug willig und kameradschaftlich alle Gefühlsausbrüche effektvoll und stimmig unterstützen.
"Milk Boy (I Love You)" fängt abwartend-angespannt, mit einem erzählerischen Grundton an, bevor die Grunge-Hölle kurz ihre Noten-zerberstende Pforten öffnet und die perverse Brutalität des Textes akustisch nachvollzieht. Diese abwartend-passiven und zupackend-ruppigen Zustände lösen sich ständig ab oder verschmelzen miteinander.
Der flüchtige, sich beinahe selbst auflösende Psychedelic-Folk von Mazzy Star hat seine Spuren bei "Suddenly, Your Hand" hinterlassen. Das Lied ist anfangs so schwerelos, langsam und zart, dass es nur dezent und schüchtern aus den Lautsprechern dringt. Später sorgen schwergängige, schillernde, elektrische Funken sprühende Gitarrentöne für ein verstörend-zerstörerisches Verhalten.
"Somewhere Near El Paso" nimmt sich über 8 Minuten lang Zeit, um die Eindrücke in Noten zu gießen, die sich während der USA-Tournee, die auch in die Gegend von El Paso führte, eingebrannt haben. Dazu gehören sphärisch schwingende Ambient-Klänge, die von weiten Landschaften und versunkenen Gedanken berichten, genauso wie minimalistisch kreisende und monoton scheppernde E-Gitarren-Akkorde, sowie hart rockende Ensemble-Leistungen. Hannah hält sich stark zurück und interpretiert nur bis zur Hälfte des Stücks ihre Verse, sodass hauptsächlich über die Schwingungen der Instrumente die El-Paso-Erlebnisse vermittelt werden.
"Lily Pad" setzt auf die Erfahrungen der scharf-brachialen Gitarren-Salven von "Somewhere Near El Paso" auf, die das Stück zum Schluss dominierten und präsentiert sich als trotziger und übermütiger Track, dessen Tempoabstufungen von schleppend bis aufgeregt reichen und Gefühle wie Gleichgültigkeit und Wut darlegen.
Zweifellos hat die Protagonistin in "Davey Says" vor irgendetwas Angst. Wir erfahren nicht, was es ist, aber Davey sagt: "Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Aber du wirst es hier rausschaffen". Entsprechend optimistisch, mit Power-Pop-Fieber versehen, läuft dieser kraftvoll krachende Song ab. Das hat Hit-Potenzial!
Die TV-Serie "The X-Files" (auf Deutsch "Akte X") ist Kult und der Leitspruch der Ermittler, der "Die Wahrheit ist irgendwo da draußen" heißt, ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Die Kollegin des überzeugten Alien-Gläubigen Fox Moulder, die selbstbewusste, aber zunächst skeptische Dana "Scully" war in ihrer von gemischten Gefühlen hin- und hergerissenen Art eine Inspiration für das Musiker-Duo King Hannah. Klanglich stellt das Stück nur ein kurzes instrumentales Intermezzo dar, bei dem die E-Gitarre die auf- und abschwellenden Töne von mächtigen Glocken zu imitieren scheint.
"This Wasn't Intentional" hört sich zunächst wie ein Walzer an, der eingefroren wird und sich kurz vor dem Stillstand befindet. Bei dieser Übung in Langsamkeit beteiligt sich die 1981 in New Jersey geborene Singer-Songwriterin Sharon Van Etten (wie schon im Eröffnungs-Track) als liebevoll-behutsame Gesangs-Begleitung und Craig lässt seine Gitarre dazu hymnisch-versonnen in Anlehnung an Neil Youngs "Cortez The Killer" erklingen.
"John Prine On The Radio" setzt dem 2020 verstorbenen Country-Folk-Singer-Songwriter John Prine ein Denkmal. Dieser ist unter anderem mit dem Song "Angel From Montgomery" unsterblich geworden. "John Prine On The Radio" ist eine herzerwärmende Ballade, die ohne E-Gitarren-Schübe auskommt. Hannah und Craig singen einmütig-ausgeglichen im Duett und nichts unterbricht die von ihnen erzeugte friedlich-beschauliche Stimmung, was dieses Lied dadurch von allen anderen auf "Big Swimmer" unterscheidet.
Denn King Hannah nutzen ansonsten die Oppositionen von laut und leise, lieblich und schroff, sensibel und brutal, um bei ihren Kompositionen entgegengesetzte Kräfte wirken zu lassen, die sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen. Diese akustische Yin und Yang-Philosophie führt beinahe zwangsläufig zu prickelnd-anregenden Ergebnissen, wie sie auch bei ähnlich agierenden Formationen wie Neil Young & Crazy Horse oder The Jesus & Mary Chain entstanden sind. Eigentlich hinlänglich bekannte Muster aus Rock, Pop und Folk hübschen King Hannah mit dieser Methode einfallsreich auf, weswegen sie dann attraktiv, neu, spannend und frisch klingen.
Craig spielt sowohl eine aussagekräftige Lead- als auch eine robuste Rhythmusgitarre. Immer so, wie es gerade emotional zu den Stücken passt. Manchmal trägt er sogar - über beide Lautsprecher-Kanäle verteilt - feurig-berauschende Duelle mit sich selbst aus. Zum Aufbau des individuellen Klangbildes gehört es auch, dass sich weder Schlagzeug noch Bass in den Vordergrund schieben. Sie bilden das stabile Fundament, auf dem sich Hannah und Craig kreativ austoben können. Als zusätzliches Tüpfelchen auf dem "I" empfiehlt sich Hannah Merrick mit ihrer überaus anziehenden Stimme als sinnliche Verführerin in allen Lebenslagen. Da treffen die intellektuelle Lieblichkeit von Laura Marling und die melodisch verwinkelte Besonderheit im Gesangsstil von Bill Callahan vortrefflich aufeinander.
Die stets für jede Komposition gemeinsam eingebrachten Ideen - ob nun entliehen oder selbst entworfen - führen zu einem Klangbild, das Raum für Gedankenspiele und Assoziationen eröffnet. Dadurch macht es durchgängig Spaß, King Hannah bei ihren kontrastreichen Ausflügen zu begleiten. Und wir können genüsslich bei der Elektrisierung der Sinne auf Spurensuche nach ihren Vorbildern und Einflussgrößen gehen. Schön, dass es immer wieder solch stimulierende Musik gibt!