Ian Fisher setzt nicht nur Standards, sondern auch die Messlatte hoch.
Jetzt ist es schon wieder fünf Jahre her, seit der vielseitige Singer-Songwriter Ian Fisher einen "Koffer" in Berlin hatte und dies auch auf deutsch besungen hat. Seitdem ist er aber nicht untätig gewesen, sondern hat "Nero" (2016), die "Italian EP" (2018), "Idle Hands" (2018) sowie "Cherry Orchard" (2019) veröffentlicht. "Idle Hands" wurde sogar vom ROLLING STONE als "halb Americana und halb Abbey Road-würdiger Pop" bezeichnet.
Der Künstler aus dem US-Bundesstaat Missouri, der aktuell in Wien lebt, ist ein Vollblutmusiker und Workaholic: Er soll schon über anderthalbtausend Lieder geschrieben haben und hat Hunderte von Konzerte in Europa, Nordamerika, Afrika und Europa gespielt, sowie an einer Handvoll von Theaterstücken in Wien und München teilgenommen. Bei Ian Fisher ist aber nicht nur die Quantität seiner Arbeit beeindruckend, sondern immer wieder auch die Qualität seiner abwechslungsreichen Kompositionen.
Für "American Standards" wählte Ian Fisher zusammen mit dem Lead-Gitarristen und Produzenten René Mühlberger und den Musikern und Co-Arrangeuren Ryan Thomas Carpenter (Keyboards), Andreas Laudwein (Bass) und Camillo Jenny (Schlagzeug) aus 300 Demo-Versionen zehn Songs aus. Diese wurden zusammen mit fünf atmosphärischen Bonus-Tracks, die als kurze Übergänge zwischen den Stücken eingestreut werden, in einem malerisch gelegenen österreichischen Studio eingespielt.
"American Standards" enthält also keine allseits bekannten Klassiker, sondern strebt den ehrgeizigen, selbstbewussten Anspruch an, die eigenen Kompositionen als kommende Evergreens zu präsentieren. Und tatsächlich hinterlässt das Werk einen im besten Sinne abgehangenen, durchdachten, abgerundeten Eindruck, bei dem die Stücke eine spezielle altersweise Patina aufweisen. Das kommt in besonderem Maße bei den ausdrucksstark interpretierten Liedern "Three Chords & The Truth" und "Winterwind" zum Tragen, die sich wie Country Folk-Urgesteine aus den 1960er und 1970er Jahren anhören. Als Vergleich fallen Künstler wie Jesse Winchester, Steve Young, Michael Dinner oder Eric Anderson ein. Diese in ihrer Schönheit unangreifbar erscheinenden Tracks nehmen eine unumstößliche Position ein, die keinen Widerspruch duldet und diesen auch unnötig erscheinen lässt.
Aber auch die anderen Lieder haben es in sich: "Maybe A Little More" fängt eine melancholische Stimmung ein, die zwischen Bangen und Hoffen angesiedelt ist. Die Stimme taucht in eine Zwischenwelt ein, die sowohl Schmerz wie auch Verlangen ausdrückt. Gesanglich lässt das an den wehmütigen Ausdruck von Morrissey (ex-The Smiths) im verregneten London denken. "AAA Station" wird vom schwirrenden, kurzen "Endless Drive Thru" eingeleitet und atmet bald darauf weitläufige Country-Luft, kann aber auch seine elektrisierende Folk-Rock- und aufmunternde Power-Pop-Wurzeln nicht verleugnen. Der Song beinhaltet einen verwegenen, kreativen Stil-Mix, bei dem sich Ian Fisher als Bruder im Geiste von Daniel Romano präsentiert.
Fishers Stimme vermittelt zwischendurch eine coole, leicht nasale Note, die eventuell auch als arroganter Ausdruck gedeutet werden kann und im Übrigen auch beim kraftvollen, selbstbewussten Song "American Standards" für Aufsehen sorgt. Das Lied fällt außerdem noch durch einen unwiderstehlichen Refrain, ein aufwühlend-treibendes Piano und leidenschaftlich lodernden Gesang auf. Das ist konstruktives Songwriting der Güteklasse A! Das instrumentale Zwischenspiel "Early Morning Haze" wird von einer singenden Pedal-Steel-Gitarre und wolkigen Keyboards in den Weltraum befördert. Bei dem sich anschließenden, demütigen, zu Tränen rührenden Country-Folk "Be Thankful" spielt die Pedal-Steel-Gitarre wieder eine Hauptrolle, weil es ihr gelingt, die Seele sanft zu streicheln. Wer hier nicht dahin schmilzt, hat ein Herz aus Stein. Ein Schnipsel der Folk-Song-Demo-Aufnahme "In Front Of Another" bildet dann den Übergang zum elegant groovenden, elektronisch verstärkten, hymnischen, Gitarren-verzierten Pop von "One Foot".
"Melody On Tape" ist eine elektronisch-akustische Spielerei als Vorgeschmack zu "Melody In Nashville". Diese romantische, beatlesque Ballade lässt die Gitarre sanft weinen. Ian singt dazu zuckersüß, als wäre er ein Schüler von Roy Orbison gewesen. Mit "It Ain’t Me" präsentiert sich der Allrounder dann als am Rock & Roll geschulter Boogie-Man und füllt den hämmernden Rhythm & Blues mit einer großen Portion Soul-Pop auf. Bei "Only Church With A God I Pray To" spricht Mr. Fisher mit sphärischer Untermalung über seine Auffassung von Spiritualität, bevor mit dem sechseinhalb Minuten langen "Ghosts Of The Ryman" der ausführlichste und eindringlichste Song der Platte beginnt. Das Ryman Auditorium ist sowas wie der Tempel der Country-Music in Nashville. Hier fand von 1943 bis 1974 die legendäre Radio-Show Grand Ole Opry statt und Ian verbeugt sich mit dem Song vor diesem Auftrittsort in seinem Geburtsort. Und das nicht etwa mit traditionellen Mitteln, sondern mit einem Konglomerat aus Gospel-Country, Art-Pop, "Wish You Were Here"-Pink Floyd und Space-Jazz. Aber dennoch respektvoll und angemessen, sowie intellektuell durchdacht.
Ian Fisher fühlt sich vom "White Album" der Beatles und von Neil Young`s "Harvest" inspiriert, weil diese Alben sowohl spartanisch instrumentierte wie auch üppig arrangierte Songs enthalten und trotzdem einen kompakten Eindruck hinterlassen. Eigentlich ist "Koffer" im Vergleich zu "American Standards" ein Werk, bei dem viel versucht und riskiert wurde. Damit nahm der Musiker bewusst in Kauf, auch scheitern zu können. Konzeptionell handelt es sich also eher um sein "White Album". Das aktuelle Werk erscheint trotz unterschiedlicher Ansätze insgesamt ausgeglichener und geordneter, wurde demnach eher wie "Harvest" gestaltet. Ian hat im Laufe seiner Karriere schon viel ausprobiert. So veröffentlichte er 2014 zusammen mit dem Berliner Musiker und Produzenten Fabian Kalker unter dem Namen Junior zwei Platten mit gediegenem Electro-Folk-Pop ("Junior Vs. Shakespeare EP" und "Self Fulfilling Prophets"). Seitdem wurde er immer sicherer und souveräner in seiner Kunst.
"American Standards" ist übrigens auch der Name einer amerikanischen Toiletten-Marke. Der Mann hat einen feinen Sinn für doppeldeutigen Humor! Für die neue Song-Sammlung kanalisiert Ian Fisher seine Ideen in Sounds, nicht in Stil-Schubladen und erlangt dadurch einen höheren Grad an künstlerischer Freiheit. Das macht seine Kreationen so wertvoll und eigen. Spätestens jetzt sollte er eine breitere Öffentlichkeit ansprechen, denn er ist schon längst in der ersten Liga der wegweisenden Musiker angekommen.