Zwei Brüder im Geiste erforschen die ungezwungene Gelassenheit inmitten von süßer Traurigkeit.
"Brother" ist das vierte Album des Stuttgarter Projektes BRTHR um Joscha Brettschneider (Gitarre, Gesang) und Philipp Eissler (Gesang, Gitarre) nach "Strange Nights" (2017), "A Different Kind Of Light" (2018) und "High Times For Loners" (2020). Die letzte Veröffentlichung des Duos und ihrer Freunde war die EP "Be Alright" aus 2022, bei der ihr spezieller Americana-Mix eine deutliche Dosis der samtigen Variante des US-Südstaaten-Sounds und ein paar spritzig-spielerische Lounge-Jazz-Tupfer injiziert bekam. Das Beste aus diesen Welten führte durch die Fusion zeitweise sogar zu magischen Momenten.
BRTHR formen ihre Ideen generell aus persönlichen Vorlieben und individuellen Vorstellungen. Die Klänge spiegeln dabei auch die Wellenbewegungen in der Pop-Musik wider, die sich aus Einflüssen, Referenzen und Retrospektiven ergeben. Das ergibt eine erfinderische Herangehensweise, die im Buch "Pop steht Kopf" in einem Artikel anhand von Beispielen beschrieben wird.
Mit einem leisen, kaum wahrnehmbaren Rauschen, Tropfen und Plätschern werden wir nun in das neue, raffiniert ausgeklügelte Studio-Werk eingeführt. Ein entspannt fließender Jazz-Groove, der Thriller-Jazz-Spannung und Latin-Sound-Coolness zusammenbringt, tastet sich anschließend vorsichtig, bedächtig und abgeklärt voran. Der Song "Heartache Street" findet sich fortan inmitten einer eleganten "süßen Traurigkeit" (wie es lyrisch im Liedtext heißt) wieder. Der Gesang lässt keine ablenkende Hektik aufkommen, sondern wirkt ausgleichend und verbindend. Space-Age-Klang-Effekte lassen Streiflichter entstehen, die eine längst vergangene Epoche heraufbeschwören. Das gute alte, kurze Gitarren-Solo, welches den verborgenen psychedelischen Geist aus der Flasche lockt und in eine wache, aufnahmefähige Richtung führt, feiert eine abenteuerlich erscheinende, erfrischende Wiedergeburt und leitet das Stück aufmerksam und selbstbewusst auf die Zielgrade zu, die einen Neuanfang andeutet: "Ich fange an, mich lebendig zu fühlen. Ich fahre die Heartache Street hinunter. Ich gewinne an Geschwindigkeit, aber wohin ich gehe, ist nicht ganz klar."
"Holding On So Tight" und "Bridges" zapfen die milde Entschlossenheit des Westcoast-Folk-Rocks an und entführen akustisch in das freigeistige Laurel Canyon-Künstler-Gefilde der 1970er-Jahre, bei dem sich die rauschhaften Songelemente allmählich zurückzogen und Soft-Rock-Einflüsse verstärkt zum Tragen kamen. Das Gewicht liegt hier also mehr auf wohligen Harmonien als auf einer intellektuell verschachtelten Vortragsweise. Beide Songs geben inhaltlich einen Blick auf den desolaten Zustand der Gesellschaft frei: "Die Welt ist in Eile und wir wissen nicht, warum. Es wird alles irgendwann enden, also warum hältst du dich so fest?" ("Holding On So Tight") oder "Warum fällt alles auseinander. Wie soll man den Kindern sagen, dass die Welt zusammenbricht? Lasst uns anfangen, Brücken zu bauen." ("Bridges").
Zackig-lockere Gitarren-Akkorde, die an frühe Dire Straits-Songs erinnern und prägnante Funk- und Soul-Vibrationen sowie eine attraktive Lässigkeit lassen "Cool Water" angenehm und unwiderstehlich swingen. Der Song packt einen bei jeder Gelegenheit und das Zuhören ist in diesem Moment die wichtigste Angelegenheit, die es gibt. Mit "Cool Water" wird an den Wahnsinn des Krieges erinnert und die Kraft der Natur heraufbeschworen, wenn es um die Heilung einer lädierten Seele geht: Das Rauschen eines Flusses und das kühle Wasser, welches den Körper umspült, können bei sorgenvollen Gedanken psychische Linderung bringen.
Der mystischen Kraft des weisen alten Flusses wird darauf hin noch ein ganzes Lied gewidmet. Bei "Wise Old River" heißt es unter anderem: "Weiser alter Fluss, wasche meine Sorgen weg, nimm diese Last weit von meinem Herzen". Der Folk-Einschlag des Tracks klingt zwar geschichtsträchtig, wirkt jedoch auf keinen Fall dröge oder veraltet. Vielmehr füllen sanfte Southern-Soul-Aromen die sich beständig und gleichmäßig wiegenden Noten mit einem lieblich-zutraulichen Charme, der von Güte, Geduld und Freundlichkeit geprägt ist.
Eine schmerzhafte Trennungs-Szene und die Hoffnung auf baldige Überwindung der Liebesqualen begleiten "When The Morning Comes". Diese gemischten Gefühle bekommen durch einen langsamen Funk-Reggae-Rhythmus eine sonnige Färbung, was dem Stück einen behutsamen Rahmen verpasst. Es entsteht eine verschwommene Wahrnehmung, so wie sie kurz nach dem Erwachen entstehen kann. Die musikalische Konstellation vermittelt parallel regulierend zwischen Traum und Wirklichkeit.
Die Balladen "Haven't You Heard" und "Spread The Good Word" nisten sich genau in die eben beschriebene, von einer unschuldigen Arglosigkeit beherrschten Stimmung ein und versuchen erst gar nicht - auf Teufel komm raus - intellektuell herausragend zu klingen, sondern pflegen ihre betörenden, das Gemüt streichelnde Erscheinungen auf seriöse, souveräne und liebevolle Weise. Sanft-hypnotischer Folk-Tronic-Gleichmut und geduldiger Country-Folk-Gospel stehen als Ausdrucksmittel zur Verfügung. Die Themen Midlife-Crisis mit 33 und Überforderung im Job hat "Haven`t You Heard" im Angebot ("Dieses Leben ist nichts für mich. Dieses Mal mache ich es richtig. Ich zähle die Stunden. Ich vergeude meine Zeit. Ich vergeude mein Leben.").
Anerkennung der eigenen Stärke ("Er lässt seine Liebe nie in die Irre gehen...wenn du mich jetzt fragst, wo man diesen Mann findet...wirf einen Blick in den Spiegel und sieh, ob er da ist.") bildet bei "Spread The Good Word" den thematischen Rahmen.
Gerne bedienen sich BRTHR beim J.J. Cale-Vermächtnis und so zaubern sie mit "Why Do You Work So Hard" einen beachtlichen, unwiderstehlich smarten, radiotauglichen Hit aus dem Ärmel, zu dem der viel zu früh verstorbene Meister des Laid-Back-Sounds wahrscheinlich von Wolke 7 aus zustimmend nickt. Übermäßige Arbeit als Verdrängungstaktik von Sorgen und Problemen? Das wird wohl häufiger praktiziert als vermutet. BRTHR versuchen sich dieser Verhaltensweise mit "Why Do You Work So Hard" zu nähern ("Warum arbeitest du so hart? Ist es wegen der Frau, die dein Herz gebrochen hat?").
Philipp Eissler und Joscha Brettschneider bilden eine verschworene, um nicht zu sagen verschmolzene harmonisch-kreative Einheit, die Musik entstehen lässt, welche auf wunderbare und kluge Weise streckenweise zeitgleich sowohl nachdenklich als auch beschwingt sein kann. Und dieses Kunststück gelingt ihnen auch mit ihrer fünften BRTHR-Veröffentlichung nahezu perfekt. "Brother" ist wieder eine großartige Platte eines großartigen Projektes geworden!