"After The Great Storm" ist eine auf angenehme Weise leicht verstörende Platte geworden, die man sich erarbeiten sollte.
Ane Brun gehört zu den Personen, bei denen aufgrund ihrer Biographie eine Hinwendung zur Kunst nicht zufällig, sondern beinahe notwendig oder unvermeidbar erscheint. Geprägt durch die Mutter - die Jazzsängerin und Pianistin Inger Johanne Brunvoll - spielte Musik und Kunstverständnis eine große Rolle in der Familie. Aufgrund dieser "schöngeistigen, gestalterischen Vorbelastung" wurde der ältere Bruder Björn womöglich Fotograf und die jüngere Schwester Marie Kvien auch Sängerin.
Ane wurde 1976 in Molde (Norwegen) geboren und verließ 1995 ihren Heimatort, um zwischen Barcelona, Oslo und Bergen zu pendeln. Während ihres Studiums in Bergen begann sie mit dem Schreiben von eigenen Songs, die sie erstmalig 1999 als Demo-Versionen aufnahm. Danach zog sie nach Schweden, wo etwa ab 2001 das Musizieren einen ernsthafteren Hintergrund bekam. 2003 nahm das Talent das Debütalbum "Spending Time With Morgan" auf und tourte danach intensiv durch ganz Europa. Nach einer erschöpfungsbedingten Pause kam die Karriere mit dem zweiten Album "A Temporary Dive" von 2004 und gemeinsamen Arbeiten mit z.B. Ron Sexsmith oder Teitur, die auf "Duets" 2005 zusammengefasst wurden, so richtig in Fahrt.
"A Temporary Dive" beinhaltete schon alle Facetten, die die Musik von Ane Brun auszeichnet. Dazu gehört erzählerische Stärke, die dem Folk-Einschlag geschuldet ist und eine klare, überwiegend melancholisch geprägte Stimmlage, die Intimität genauso wie Zuversicht ausdrückt. Dann kommen noch kammermusikalisch-mystische Begleitungen zum Tragen, die das Experimentelle des Folk-Jazz mit den warmen, reifen Tönen des Adult-Pop verschmelzen. Und das alles wird von Melodien umgeben, die verschlungen-düster, aber auch anheimelnd-sanft sein können.
Bis 2018 erschienen etwa ein Dutzend weitere Studio- sowie Live-Aufnahmen und Zusammenstellungen, die den exzellenten Ruf der vielseitig begabten, sensiblen Musikerin festigten und sie unter anderem im Umfeld von Peter Gabriel auftauchen ließ.
In 2020 wird es gleich zwei neue Studio-Alben geben, die eigentlich als Doppelalbum erscheinen sollten. Aber durch die Pandemie hatte die Musikerin Zeit, das Konzept zu überdenken und sortierte die Stücke so, dass sie zwei unterschiedliche Ausrichtungen abdecken: Am 27. November 2020 erscheint "How Beauty Holds The Hand Of Sorrow", aber zunächst erblickt "After The Great Storm" am 30. Oktober 2020 das Licht der Öffentlichkeit.
Diese Werke beinhalten die ersten Eigenkompositionen seit "When I`m Free" aus 2015. Der Grund für die lange Auszeit lag in der Trauer, die nach dem Tod des Vaters im Jahr 2016 bewältigt werden musste. Eigentlich bezieht Ane sonst alle ihre Erlebnisse in den Kompositionsprozess ein, aber in diesem Fall war sie wie gelähmt. Die Zeit musste Wunden heilen und erst im Sommer 2019 gelang es der Künstlerin, diesen Schicksalsschlag in Kreativität umzulenken.
Die neuen Songs auf "After The Great Storm" scheinen im Prinzip einen Kampf zwischen Rationalität und Emotionalität auszufechten. Die exakt getakteten Drums stehen dabei als Beispiel für das berechenbare Element, während die schwelgenden Streicher oder Keyboards einen Hang zur sphärisch-übersinnlichen Wahrnehmung verkörpern. Ane Brun nimmt sich Zeit dafür, ihre Ideen wirken zu lassen. Die Songs sind jeweils über vier Minuten lang.
Zwischen der edlen, delikaten Eleganz von "A Temporary Dive" und dem im Vergleich dazu unruhigen, mit Elektronik-Einschlag durchzogenen "After The Great Storm" scheinen Welten zu liegen. Denn die Laufzeit der Lieder wird nicht vorrangig dazu benutzt, um innere Einkehr herzustellen, sondern tendenziell dazu, einen verbindenden Groove zu generieren.
So wie im Opener "Honey", wo hypnotische Rhythmen über sechs Minuten hinweg generiert werden, um einen Trance-ähnlichen Zustand zu erzeugen. Der flehentlich-durchdringende Gesang sorgt flankierend dazu für emotionale Spannung.
Nicht so hektisch, stattdessen eher mystisch-verklärt zeigt sich das Titelstück "After The Great Storm". Dramatische Streicher und monotone Synthesizer-Klänge in Dauerschleife erzeugen einen aufgebauschten und suggestiven Sound.
Belebend swingende Drum-Sounds sorgen bei "Don’t Run And Hide" für einen jugendlichen Pop-Appeal, der sich im Wesentlichen der bekümmerten Grundstimmung unterordnen muss. Das ist ein weiteres typisches Beispiel für die erwähnte innerliche Zerrissenheit, die den Stücken innewohnt. "Crumbs" könnte aus dem Dark-Wave der 1980er Jahre stammen: The Human League, The Cure oder auch This Mortal Coil kommen bei dem verschleierten Chanson in den Sinn.
Für "Feeling Like I Wanna Cry" experimentiert Ane mit Break-Beats, singt aber trotzig mit dem Mut der Verzweiflung gegen die aufkommende Disharmonie und bedrohliche Dunkelheit an. Dabei stehen ihr wohlwollende Mächte in Form eines brummenden Basses und aufmunternd wehende künstlich erzeugte Schwebe-Klänge bei.
Treibend-fordernde Elemente der Electronic-Dance-Music, die im Zaume gehalten werden, bestimmen die Stimmung von "Take Hold Of Me". In Verbindung mit dem introvertierten Gesang hört sich das unbequem an. Das ist die angenehme Form des Querdenkens, weil hier wirklich Erwartungen aufgebrochen und neue Horizonte auf Basis von Fakten und Erfahrungen geöffnet werden!
Die Ballade "Fingerprints" verbindet Kammermusik mit Electro-Pop. Es kommt dem Stück zugute, dass es über sieben Minuten lang ist. Denn es dauert eine Weile, bis der Song sein süßes Gift so zielgerichtet versprüht hat, dass es den Hörer in seinen Bann zieht. Aber dann ist die Wirkung nachhaltig und betört die Sinne. Die hier erzeugte düster-unheimliche Atmosphäre erinnert an Hits von Procol Harum wie "A Salty Dog".
Bei "The Waiting" fallen weitere selbstbewusste Frauen ein, die auch im Zusammenspiel von kühler Elektronik, emotionalem Gesang und sinnlich-harmonischer Melodik ihre Mitte gefunden haben: Joan As Police Woman und Sophie Hunger. Das mahnende "We Need A Mother" bildet einen künstlerisch schlüssigen Abschluss. Hier begegnen sich anspruchsvolle Art-Pop-Sequenzen sowie rührende Gesangseinlagen, die direkt zu Herzen gehen. Und so manifestiert sich nochmals der Eindruck einer tiefen Sinnkrise, die in Noten gefasst wurde, um verarbeitet werden zu können.
Für "After The Great Storm" besinnt sich Ane Brun manchmal an Begebenheiten aus der Vergangenheit, die schöne Erinnerung hervorrufen. So wie eine Kassette, die im Alter von 18 Jahren für eine Brieffreundin aufgenommen wurde ("Honey") oder Reminiszenzen an die Tanzmusik, die sie in ihrer Jugend hörte ("Take Hold Of Me"). Neben der Nostalgie geht es dann auch wieder um Rationalität, was das Blühen und Vergehen von Blumen im Video zu "Feeling Like I Wanna Cry" symbolisieren.
Das Werk hinterlässt unter Umständen immer dann zunächst einen zwiespältig-kantigen Eindruck, wenn die Erwartungshaltung an eine akustische, harmonisch überfließende Ane Brun geknüpft ist. Lässt man aber einfach den suchenden, mit sich ringenden Aspekt auf sich wirken, dann offenbart sich eine Künstlerin, die bewusst jeder Festlegung aus dem Weg gehen will und auf ihre Instinkte hört, den Moment auskostet und ihren Ideen freien Lauf lässt.
Dafür bedarf es einer mutigen Haltung und es erfordert einen freien Geist. "After The Great Storm" ist also eine auf angenehme Weise leicht verstörende Platte geworden, die man sich erarbeiten sollte.