Eher ein Tritt in den Allerwertesten als eine Würdigung zum 64. Geburtstag
Oh pardon, ich vergaß, natürlich wird Vicky Leandros erst 60 Jahre alt. Die vier im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn "verschwundenen" Jahre seien ihr gegönnt, wenn's dem Ego denn hilft. Reden wir also nicht mehr drüber. Aber egal ob nun zum Sechzigsten oder zum Vierundsechzigsten - mit dieser Doppel-CD als Geschenk würde ich mich auf keinen Fall zur Geburtstagsfeier im Hause Papathanasiou wagen, wäre ich der gratulationsbeauftragte Vertreter der Plattenfirma. Man muß nämlich sowohl beim Blick auf die Trackliste als auch beim Durchhören der beiden Scheiben unweigerlich fragen: Wer hat diesen vollkommen konzeptlosen Blödsinn bloß verbrochen? Damit keine Mißverständnisse aufkommen, Vickys Lieder sind über jeden Zweifel erhaben. Bis auf ein paar Ausrutscher vielleicht, die es in jeder noch so anspruchsvollen Karriere gibt. Aber auf vorliegender Doppel-CD reiht sich ein beliebiger Titel an den anderen, anscheinend völlig wahllos aus der Diskographie herausgepickt und irgendwie aneinandergeklebt. Und kaum einer paßt zum nächsten. Eine von einem Kenner des Vicky-Leandros-Repertoires mit Gefühl, Sachverstand und Gespür für eine gewisse musikalische Dramaturgie vorgenommene Zusammenstellung wäre bei dieser Veröffentlichung dringend nötig gewesen. Denn schließlich soll es sich ja um eine große, würdige Best-of-Werkschau zu einem großen Jubliläum einer großen Künstlerin handeln, nicht um irgendeine Wühltisch-Compilation für die Rossmann-Regale. Aber genau dieses Ziel wurde eindrucksvoll verfehlt.
Man nehme also ein paar Originale, die schon auf hundert anderen CDs zu finden sind, angereichert mit ein paar mehr oder weniger mißratenen Neueinspielungen aus dem Jahr 2005 (allen voran das bittersüße "Grüße an Sarah", eigentlich von 1983 und immer noch sooo schön, aber als Remake leider kaum zu ertragen), dazu ein paar aktuellere Songs der 2000er Jahre, alles wild und völlig ungeachtet der verschiedenen Stilistiken durcheinandergeschmissen - fertig ist ein Schnellschuß, der nicht nur für Vicky Leandros selbst eine Beleidigung darstellen muß, sondern auch für jeden ihrer langjährigen Fans. Der Gipfel des Unfaßbaren ist der Klassiker "Ich liebe das Leben", hier nicht etwa im Original von 1975 vertreten, sondern im Duett mit Andrea Berg seines ursprünglichen Charakters beraubt und einfach nur auf billige Weise neuproduziert, ich möchte fast sagen: vergewaltigt. Für wen ist diese akustische Tortur eigentlich gedacht? Das ist ja gerade so, als würde Barbra Streisand ihr "Woman In Love" im Duett mit Stéphanie von Monaco aufnehmen.
Das Beste von Vicky Leandros? Nein, liebe Polydor, für eine wirkliche Best-of-Zusammenstellung, die Vicky Leandros' grandiose Karriere Revue passieren läßt, fehlen hier einfach zu viele wichtige Titel, vor allem aus den 70er und 80er Jahren. Zudem wurden die Neuaufnahmen alter Hits offenbar rein zufällig verwendet, also ohne daß man sich überhaupt darüber im klaren war, daß es Neuaufnahmen sind. Schließlich ist das schon auf der CD aus der Polydor-Reihe "Schlagerjuwelen" sowie auf der Reader's Digest/Koch Universal-Box "Meine Freunde sind die Träume - Die großen Erfolge" (beide von 2009) passiert. Und so zwei, drei auf CD bisher nicht erhältliche Fanfavoriten wie "Anders als die anderen", "Ich weiß, daß Liebe lebt", "Es war ein Sonntag" oder "Zweimal sieben Jahre" hätten dieser neuen Liedersammlung auch nicht geschadet, sondern vielmehr unzählige Sammlerherzen höher schlagen lassen. Aber das ist wohl einfach zu viel verlangt.
Wenn man sich nach dem Anhören dieses kompilatorischen Trauerspiels nun noch das "Booklet" besieht - ein dünnes, inhaltsloses Faltblättchen mit unzähligen Fehlern (falsche Jahreszahlen und natürlich der inzwischen schon legendäre "Herr Andonis", der immer und immer wieder zum Adonis wird) -, hat man die traurige Gewißheit, daß selbst bei einer der ältesten deutschen Plattenfirmen, die einst Maßstäbe in Sachen Repertoirepflege ihrer größten Künstler gesetzt hat, nichts mehr so ist, wie es mal war. Aber vielleicht arbeitet ja im Hause Polydor gar kein Mensch mehr und die Doppel-CD wurde von einem Computer gemacht? Oder war es ein Azubi, der den Namen Vicky Leandros noch nie gehört hatte? Dann wäre das eine Erklärung, die zwar bitter ist, aber immerhin einleuchtet.