Wir faaaahr'n...
Kraftwerk: Autobahn (LP, 180g, Translucent Blue Vinyl, 2020)
...auf der Autobahn. Ach ja, was werden da für Erinnerungen wach: an die 70er Jahre, als ich in jeder freien Minute am Radio saß, um die neuesten Hits, tja, förmlich aufzusaugen. Vicky fuhr nach Lodz, George rockte sein Baby, und Udo trank (nein, keinen Eierlikör, das war der andere) griechischen Wein. Sweet, Slade und Suzi brachten etwas Stimmung in die Bude (''muss das immer so laut sein?''). Doch plötzlich lief da eine ganz merkwürdige Art von Musik. Klänge, Instrumente, die ich vorher nie gehört hatte. Und dann der Text! Warum fuhren die auf der Autobahn? Nach drei Minuten war die Fahrt vorbei, schon ging es wieder mit Paloma Blanca und Co. weiter.
Aber ich war infiziert. Das Taschengeld war knapp und reichte nur für 'ne Single. Im Monat! Also war eisernes Sparen angesagt, bis ich mir endlich die LP kaufen konnte, um die ich schon länger herumgeschlichen war: Kraftwerk. Autobahn!
Wer wie ich diese Zeit als Teenager erlebt hat, weiß wovon ich rede. Diese Musik war so... anders! Elektronisch erzeugte Klänge, das war (zumindest für mich) etwas völlig neues. Über 22 Minuten dauerte die Fahrt auf der Autobahn, und jede Sekunde davon war eine Offenbarung. Ich glaube, ich habe am Schluss sogar ein kleines Tränchen zerdrückt.
Auch bei der zweiten LP-Seite wurden die Augen feucht, aber diesmal nicht vor Ergriffenheit, sondern vor Enttäuschung. Was sollte das denn jetzt? Zirpen, Zischen, Rauschen... das war doch keine Musik! Und dafür hatte ich meine letzten Kröten geopfert? Am liebsten wäre ich im Boden versunken.
Nun, inzwischen hat sich das relativiert. Autobahn ist immer noch ein phantastischer Trip, auch bei der hier rezensierten LP in blauem Vinyl. Das Ding läuft super, der Sound ist toll, und die Platte lässt mich bei jedem Hören erneut in eine Zeit abtauchen, die so weit und plötzlich doch so nah ist. Selbst mit Seite 2 habe ich mich inzwischen angefreundet, aber wenn, dann kommt die Autobahn 'ran.
Das Cover hat die Jahre nicht unverändert überstanden und zeigt bei der Neuauflage das allgemein bekannte Autobahnschild, welches schon 1976 das damalige Kraftwerk Doppelalbum zierte. Das ursprüngliche Coverfoto ist nun auf der Innenhülle abgedruckt. Dazu gibt es ein 12-seitiges Booklet im LP-Format mit weiteren Grafiken zum Thema Auto und Verkehr von Emil Schult. Der Lied-Text des Titelsongs ist ebenfalls dabei, die anderen Tracks sind instrumental.
Weitere Texte bietet die Beilage jedoch nicht. Zwar ist auf der letzten Seite zu lesen, wer welche Instrumente spielt, ansonsten halten sich die Kraftwerker mit Informationen wie Aufnahmedaten oder etwas in der Art wie gewohnt bedeckt.
Wie man an den übrigen Bewertungen sehen kann, ist die Pressqualität heutiger Vinyl-Scheiben immer ein heikles Thema. JPC tauscht fehlerhafte Pressungen zwar generell anstandslos um, trotzdem scheint Vinyl-Kauf heute Glückssache zu sein. In einer TV-Doku über den Vinyl-Boom äußerte sich der Sprecher einer allgemein hoch geschätzten Plattenfirma sinngemäß wie folgt: ''Wir haben alles an Plattenpressen aufgekauft, was auf dem Markt zu finden war. Sonst hätten wir die Nachfrage nie bewältigen können.'' Im Hintergrund waren dann auch alle möglichen Gerätschaften zu sehen, die zum Teil wirklich antiquarisch anmuteten. Vielleicht läuft das doch alles nicht so optimal...
Nun, ich habe offenbar Glück gehabt: die Platte liegt absolut plan auf dem Teller und ist sorgfältig zentriert. Einen Punkt Abzug gibt es für das minimale Grundrauschen, das offenbar dem blauen Vinyl geschuldet ist (schwarze Platten gelten aufgrund ihres Rußanteils als am nebengeräuschärmsten). Die Nadel läuft fehlerfrei durch, Verzerrungen oder gar Hänger sind (jedenfalls bei meinem Exemplar) kein Thema.