Stimmiges & sehr gutes Genesis-Album
Vielleicht liegt es daran, dass ich weder ein Jünger der progressiven Genesis-Phase, noch ein ausgewiesener Fan der Poprock-Genesis war. Ich habe zwar eine Vorliebe für die Genesis-Platten der Jahre 1980 bis 1986. Das liegt für mich einerseits daran, dass diese drei Scheiben insgesamt stringenter und mehr auf den Punkt komponiert sind und andererseits den Test der Zeit, aus meiner subjektiven Sicht, besser bestanden haben als die älteren Alben. Das ist aber vielleicht auch ein grundsätzliches Problem der Progrock-Ära. Aber natürlich sind die Genesis-Scheiben vor 1975 oder wahlweise auch vor 1977 oder vor 1980 gut und auch etwas ganz Eigenes. Und die Einflüsse und Erfahrungen der Progrock-Jahre sind bei allen Genesis-Scheiben der Achtziger hör- und spürbar. Auch wenn es viele "progressive" Fans nicht wahrhaben wollten oder wollen, eine platte Popband wurden Genesis nie. Meiner Ansicht nach war die musikalische Entwicklung bei Genesis notwendig und konsequent und vermutlich entdeck(t)en viele die alten Genesis über GENESIS & INVISIBLE TOUCH!
Ich teile auch nicht die Ansicht, dass die Peter Gabriel-Scheiben besser oder wichtiger seien als die Platten von Phil Collins. Die Qualität der Musik und Produktion ist nämlich meiner Ansicht nach bei Collins grundsätzlich ebenso hoch einzuschätzen wie bei Gabriel. Dass die Platten von Phil Collins, vor allem im Vergleich zu den ersten vier Solowerken von Gabriel, häufig kommerzieller produziert und entsprechend erfolgreich(er) waren, ist für mich keinerlei Grund ihnen Qualität abzusprechen. NO JACKET REQUIRED bspw. ist meiner Meinung nach trotz des geradezu typischen 80er-Sounds nach wie vor eine prima Pop-Platte, ...BUT SERIOUSLY trotz des riesigen kommerziellen Erfolgs und der nachfolgenden hämischen Kommentare immer noch eine sehr gute Poprock-Scheibe und FACE VALUE und BOTH SIDES sind wunderbare persönliche Werke.
Ich gehöre also keinem der bekannten Genesis-Lager an. Daher gehe ich an die Musik der Band offen ran. ABACAB ist gewissermaßen ein Übergangswerk, das dritte hintereinander. Bei AND THEN THERE WERE THREE versuchten die drei letzten Mohikaner Banks, Collins und Rutherford sich als Band erneut neu zu finden und neue Wege jenseits vom 70er-Prog zu gehen. Bei DUKE gehen sie weiter, der Sound und die Songs sind schon klarer, sparsamer, die Scheibe beinhaltet aber auch eine über die Platte verteilte Suite und damit genug Prog um auch die meisten Fans alten Fans mitzunehmen. Mit ABACAB gehen Genesis aber noch einige Schritte weiter. Die Musik ist entschlackter, die 70er werden begraben und das war auch absolut notwendig, um der Band ein Überleben zu ermöglichen. Mit ABACAB gingen Genesis deutlich in Richtung kommerziellere Rockmusik und daran war nichts falsch! Die Songs sind eingängier, tanzbarer, haben mehr Groove und Pop, sind allerdings noch nicht so radiotauglich wie bei den Nachfolgern. Collins-typischer gated-reverb-Drumsound kommt hier gut zur Geltung. Die Platte ist insgesamt minimalistisch gehalten. Dies ist im Vergleich zu allen Vorgänger, mit Ausnahme von DUKE, das die minimalistischen Ansätze schon signifikant enthält, das auffälligste Merkmal, der Bombast findet nicht mehr statt. Die Musik ist knackig und hat, auch wenn hier ein Hit wie bspw. MAMA fehlt, kommerzielles Potential. Dabei bietet ABACAB jedoch keinesfalls flache Popmusik, wie sie in den 80ern (& natürlich auch in allen anderen Jahrzehnten seit Elvis mit THAT'S ALL RIGHT um die Ecke kam) auch häufig zu hören war. Das Songs von Banks, Collins & Rutherford finde ich qualitativ sehr gelungen.
ME AND SARAH JANE von Tony Banks erinnert mich in einigen Passagen an McCartney und wartet mit einer klasse Melodie auf. ABACAB zu Beginn gibt den Sound der Platte vor und repräsentiert gut, dass Genesis hier zwischen progressivem Rock und guter Popmusik stehen. DODO/LURKER erinnert mich an die älteren Sachen der Band, aber im knackigen Gewand. Ein abwechslungsreiches Stück und einer der Höhepunkte der Scheibe, die lauter gute Songs zu bieten hat. ABACAB ist für mich insgesamt etwas homogener als der Nachfolger GENESIS, klingt mehr wie aus einem Guss. Das 83er-Album geht insgesamt schon mehr in Richtung Pop. Daran finde ich nichts schlecht und GENESIS gefällt mir auch sehr gut. WHO DUNNIT?, für die Fans von SUPPER'S READY, die ABACAB bisher überlebt haben, sicher ein Schock oder zumindest ein schlechter Scherz. Scherz? Der Song, eine Art Genesis-Punk, hat ein gewisses Nervpotential, sehr knapper Text, der Song wirkt wie eine lange Nase für alle, die mit den neuen Genesis nicht einverstanden sind. Bei der Ablehnung von WHO DUNNIT? können sich Proggies und Collins-Balladen-Fans fröhlich die Hand reichen. Genesis hatten auch live sichtlich Spaß an der Nummer. KEEP IT DARK ist ein toller, treibender Song, auch die Gesangsmelodie gefällt mir gut. LIKE IT OR NOT hat ein tolles Intro, eine schöne Melodie, tolles Arrangement, ein prima Track von Mike Rutherford. NO REPLY AT ALL würde auch auf den 83er-Nachfolger passen, ein gelungener tanzbarer Popsong. Kritik gab es, da hier Bläser/Gastmusiker eingesetzt wurden. Ich halte dies für einen albernen Vorwurf. Auf einer Genesis-Platte spielen andere Musiker mit, so what? Ist das weiße Album der Beatles schlecht, weil hier auch andere ihre Parts haben? MAN ON THE CORNER ist ein weiterer sehr guter Song und ja, er klingt nach Phil Collins, dem Autor des Songs. Wo ist das Problem? Hat sich jemals jemand beschwert, dass LET IT BE nach McCartney klingt & I'M THE WALRUS nach Lennon? Außerdem finde ich sehr gelungen, dass MAN ON THE CORNER direkt nach WHO DUNNIT? kommt. Zum Schluss kommt mit ANOTHER RECORD ein Song der das Album gut abschließt. ABACAB ist ein stimmiges und sehr gelungenes Album mit 9 tollen Songs, die von den drei "Solostücken" abgesehen, von der Band gemeinsam geschrieben wurden. Ich mag die Platte sehr, ABACAB ist eine stimmige uns sehr gute Genesis-Scheibe.
Ich kann nachvollziehen, dass viele Fans, die vor allem die Genesis-Werke von 70 bis 76/78/80 schätzen, mit ABACAB nichts anfangen können. Für Progrock-Verhältnisse haben sich Genesis spätestens mit dieser Scheibe zu viel und vor allem zu weit weg entwickelt. Für Fans von Drei-Minuten-Popsongs oder dem typischen 80er-Jahre Pop ist ABACAB jedoch andererseits sicherlich viel zu kompliziert, viel zu sehr Kunstgeschwurbel. Wer mit (guter) Pop/Rockmusik etwas anfangen kann ist hier gut bedient. Nach ABACAB folgten drei noch kommerziellere Genesis-Platten mit den Herren Banks, Collins & Rutherford. Mit ABACAB waren für Genesis endgültig die 70er-Jahre vorbei. Dies schmälert nicht die Klasse von bspw. THE LAMB LIES DOWN BROADWAY, noch ist es bedauerlich, dass 1986 INVISIBLE TOUCH durch den Äther flog. Für mich ist Genesis eine große Band (gewesen), die von 1969 bis 1991 (die letzte Scheibe ohne Collins kenne ich bis dato nicht, habe bisher auch kein Interesse mich damit zu beschäftigen) viele gute Werke erschaffen hat.