Cicely is a State of Mind
"Charme, Sophistication und Leichtigkeit bilden seit jeher die Eckpunkte einer viel zu seltenen, etwas anderen Form der Subversion - wie eben in AUSGERECHNET ALASKA. Also los, erinnern wir uns! An den unter die Hinterwäldler geratenen Dr. Fleischman, der immer nur zurück nach Hause wollte und selbst von dem Mädchen mit dem phänomenalen Lächeln nicht so recht zu überzeugen war..." (Sky Nonhoff)
Viel treffender und schöner kann man wohl gar nicht den wesentlichen Aufhänger der Ausnahmeserie "Ausgerechnet Alaska" auf den Punkt bringen. Aber auch wenn der jüdische Großstadtneurotiker Joel Fleischman gezwungen wird, das Stipendium für sein Medizinstudiums in Cicely (einem provinziellen 840-Seelen Nest mitten in der Wildnis von Alaska) abzuarbeiten und an der fremden Kultur, den frugalen Lebensverhältnisse und an der familiären Dorfgemeinschaft zu verzweifeln droht, wäre es ungerecht, die Serie nur auf den "New-Yorker mit Heimweh" zu reduzieren, - denn "Ausgerechnet Alaska" lebt von all den fabelhaften Protagonisten, die erstaunlicherweise gerade dadurch authentisch und liebenswert wirken, weil sie fast alle mit unausstehlichen Eigenarten aufwarten.
Allerdings geht es um so viel mehr, als nur um eine Hand voll außergewöhnlicher Menschen, die in einem idealistischen Mikrokosmos drollige Abenteuer erleben.
Es geht darum, daß offensichtlich auch ein intelligentes, anspruchsvolles Format jenseits von so abgehalfterten Comedy-Fossilen wie "Al Bundy" massentauglich sein kann, solange es nur in einem unterhaltsamen Rahmen steckt. Das ehrgeizige Projekt der beiden Produzenten Joshua Brand und John Falsey ist geglückt, - und zwar ganz ohne Lachkonserven und abgedroschenen Stereotypen. In Amerika wurde "Northern Exposure" in den Printmedien als "The Coolest Show Ever" gefeiert, während "Ausgerechnet Alaska" hierzulande leider quotentechnisch sowohl RTL als auch VOX enttäuschte, - was allerdings nicht zuletzt an den unattraktiven Sendeterminen lag. Doch an der Qualität der Serie gibt es unter Kritikern keinen Zweifel. Sechs Staffeln, einhundertzehn Folgen, hat "Ausgerechnet Alaska" auf allerhöchsten Niveau neue Standards gesetzt, die so viele Serien beeinflußt haben. Mehr oder weniger offen ahmen vergleichsweise gute Sendereihen wie "Picket Fences" über der (wie ich persönlich finde) allgemein überschätzten "Ally McBeal" bis hin zu den eher dümmlichen "Men in Trees" die Ausnahmeserie "Ausgerechnet Alaska" nach. Überall lassen sich Anleihen entdecken, wenn man sich tatsächlich die Mühe machen und sich durch die oft drittklassigen Plagiate quälen würde.
Doch obwohl "Ausgerechnet Alaska" so viele Alaska-spezifische Probleme wie Alkoholismus, Selbstmord oder Depressionen weitestgehend ausklammert, ist Cicely mit seinen komplexen Charakteren kein Utopia.
Da wäre natürlich Joel Fleischman, der New York dermaßen verinnerlicht hat, daß er mit seinen schizoiden Großstadtallüren die geduldigen Cicelianer bestenfalls konsterniert. Da ist die impulsive Maggie O'Connell, die den weiblichen Part einer diffizilen Beziehung zwischen den beiden "gegenseitig, begehrenden Unvereinbaren" (Maggie & Joel) bildet. Da ist die schrullige Ruth-Anne Miller, die einerseits erstaunlich liberal auftritt und dann doch so ekelhaft kompromißlos und dogmatisch sein kann, daß man vor Wut in den Teppich beißt. Oder die stoische Sprechstundenhilfe Marilyn Whirlwind, der man am liebsten persönlich in den Hintern treten möchte, wenn sie wieder mal nur einsilbig und phlegmatisch auf einen dieser herrlichen, cholerischen Anfälle des Doktor Fleischman reagiert. Da ist der gutmütige Holling Vincoeur, der aus einer rücksichtslosen Akristokratenfamilie abstammt und doch das Herz der naiven "Miss Northwest-Passage" Shelly Tambo erobern konnte, weil er sich von der Bosheit seiner Ahnen distanziert. Da ist das schwule Paar, Ron und Erick, die erfreulichweise keines der üblichen tuntigen Klischees erfüllen, die gerade in amerikanischen Komödien und Serien so gerne bemüht werden. Diszipliniert, geschäftig und durchaus zynisch führen sie ihre kleine Frühstückspension am Rande der Stadt. Großartig sind auch Adam und Eve: der psychopathische Meisterkoch, Gourmet und Obskurant, der hinter jeder Ecke eine Intrige vermutet (und man als Zuschauer jedesmal im Unklaren gelassen wird, ob er nun paranoid ist oder genial) und seine hochgradig hypochondrische Gattin, die Joel in einer Folge bei sich zu Hause niederschlägt und in Ketten legt, weil sie unbedingt einen Arzt in ihrer Nähe haben will. Nicht zu vergessen natürlich der reaktionäre, homophobe Ex-Astronaut Maurice Minnifield, der immer wieder mit seinem beachtlichen Vermögen Cicelys Aufschwung einzuläuten versucht und dabei auf eine gepfefferte Rendite spekuliert. Doch nichts ist ihm so verhaßt wie Mitleid oder Almosen. Als ihm in einer Lebenskrise seine Sozialversicherung eine Auszahlung ankündigt, teufelt er: "Ihr steckt mir Nadeln in die Puppe!" und wehrt sich gegen den gesellschaftlichen Voodoo auf seine ganz persönliche, trotzige Art und Weise. Aber im Gegensatz zu seinem Logen-Bruder Lester Haynes hat Maurice kein Herz aus Stein. Während der verkorkste Patriot Minnifield - trotz seines privilegierten Reichtums - menschlichen Anstand bewahrt hat, ist sein indianischer Rivale Haynes völlig entwurzelt, - der Kapitalist hat keinerlei Bezug mehr zu seiner Kultur und geht über Leichen.
Und gerade diese raffinierten Analogien machen den Unterschied zu anderen Serien, denn "Ausgerechnet Alaska" atmet geradezu Symbolik, Metaphern und Mythen. Unterschwellig und amüsant bringt sie dem Zuschauer Psychologie, Philosophie und Literatur näher, - ohne den moralinsaurem Beigeschmack einer "Bill-Cosby-Show"! Oder wie ein schlauer Kopf in dem Zuschauerforum des Kulturkanals ARTE einmal über "Ausgerechnet Alaska" schrieb: "Welche Serie befaßt sich denn sonst mit Literatur von Dostojewski bis Thoreau, von Heidegger bis Tolstoi? Welche Serie setzt sich ernsthaft, wenn auch oft mit leiser Ironie, mit den Texten Joseph Campbells, mit der Frage, was Kunst ist, mit Katholizismus, Judentum und Agnostik (...)" Und auf dieser Erkenntnis will ich jetzt erst einmal weiterreiten, bis der Klepper zusammenbricht:
Ed Chigliak beispielsweise symbolisiert den Schmelztiegel Cicely. Der indianische Waise verkörpert zu gleichen Teilen weiße als auch indianische Kultur. Einerseits zum Heiler berufen, andererseits dem Kino verfallen, versucht er, sich in seiner Welt zurecht zu finden. Diese innere Zerrissenheit zwischen Schamane und Drehbuchautor, zwischen Stammes-Mythologie und den Hollywood-Geschichten macht ihn gleichzeitig liebenswert und bedauernswürdig, denn er stolpert orientierungslos durch die Serie, besessen und gepeinigt von seinem Dämon: "Geringe Selbstachtung".
Auch der O'Connell-Fluch ist solch ein phantastisches Paradoxon. Die Liebe der emanzipierten Buschpilotin Maggie O'Connell rafft früher oder später alle ihre Liebhaber auf irrsinnigste Weise dahin. Das ist emotionale Algebra... und weder der Superallergiker Mike Monroe noch Joel Fleischman sind in der Lage, Maggies Liebe dauerhaft zu erwidern resp. die Gleichung ausgewogen zu gestalten. Sie flüchten, bevor sie sterben (müssen)!
Oder der Schamane Leonard, der in einer Episode versucht, das "kollektive Unterbewußte der Weißen" anhand deren Mythen und Legenden zu lokalisieren und dabei erkennen muß, daß die Geschichten, die er sich erzählen läßt, keinerlei Sinn ergeben und Chris weiß auch warum: "Die Massenproduktion hat den Kapitalismus eingeleitet, aber daß hat das Individuum geschwächt, das daraufhin Gott getötet hat und wir - als Gesellschaft - haben das Vakuum mit Angst und Paranoia gefüllt".
Wie kritisch und humorvoll die Serie sich selbst analysiert, zeigt ein Beispiel: Über fünf Staffeln haben die Drehbuchschreiber den intellektuellen Radio-DJ und Frauenschwarm Chris Stevens zum absoluten Publikumsliebling aufgebaut, nur um ihn dann in einer einzigen Folge von einer Bauchrednerpuppe, dem "hölzernen Amerikaner", zu demontieren. Die geistreichen Aphorismen (quer durch Literatur & Philosophie) und psychologischen Schlenker (Freud & Jung), mit denen Chris den Zuschauer begeistert hat, entpuppen sich plötzlich als viel zu anstrengend, als dass man diesen selbstverliebten, ambivalenter Schwätzer auch nur einen Tag ertragen wollte.
Ein schönes Beispiel der berühmten "Welten, die aufeinander prallen", ist die Episode, in der Joel ein prähistorisches Mammut unter einer Schneedecke entdeckt. Doch noch bevor er diesen sagenhaften Fund wissenschaftlich erforschen kann, ist schon der einheimische Trapper Walt Kupfer mit Dynamit und Kettensäge zur Stelle und macht aus dem Urviech bedenkenlos Hackfleisch... So setzt jeder seine Prioritäten!
Oder die Geschichte, in der Ruth-Anne mühselig versucht, italienisch zu lernen, damit sie Dantes "Göttliche Komödie" im Original lesen kann und dabei mißgünstig feststellt, dass die naive Shelly ihr unglaubliches Talent für Fremdsprachen gnadenlos vergeudet.
So viele wunderbare Handlungen gäbe es zu erzählen, die in der Regel nie nur zu Unterhaltungszwecken ausgedacht wurden, sondern stets ein philosophisches Motiv besitzen: zum Beispiel vom Maggies katapultierten Klavier oder von Bob, "dem fliegenden Mann", oder von Rabbi Schulmans Besuchen in Cicely oder als Chris der Wintersonnenwende mit Goethes letzten Worten "Mehr Licht!" ein Schnippchen schlägt oder wie es dem leibhaftige Satan (in der jämmerlicher Gestalt eines schmierigen Badewannenvertreters ) beinahe gelingt, Shelly zu verführen oder...
Aber all diese Geschichten gibt's ja nun endlich in dieser phantastischen DVD-Sammlung, deren Veröffentlichung mit der deutschsprachigen Tonspur fast wie eine kleines Wunder erscheint. Viele Jahre verhinderte nämlich ein Musikrechte-Problem die digitale Vermarktung der Serie und sorgte für lange Gesichter bei den Fans, mit denen der Seriengott angesichts der vielen verpatzten TV-Ausstrahlungen ja nicht gerade zimperlich umgesprungen war. Doch nun erbarmte sich Turbine Media und läßt mit dieser Sonder-Edition keinen Wunsch offen: alle 110 Folgen auf 28 DVDs in optimierter Bildqualität mit wahlweise deutscher und englischer Tonspur, - und zwar jeweils mit der Original-Musik, - zusätzlich haufenweise unveröffentlichte Szenen und andere Outtakes mit deutschen Untertiteln.. Ich bin begeistert!
"Ausgerechnet Alaska" ist nicht nur eine der besten TV-Serien aller Zeiten, "Ausgerechnet Alaska" ist eine Lebensphilosophie! Oder um es noch einmal mit Sky Nonhoffs Worten zu sagen:
"Romantik! Das dazugehörende Zögern! Hormoneller Swing! Pure Bewußtseinserweiterung"
Wow, dem gibt es nichts hinzuzufügen!