"Trost brauchen wir alle", meinen Sendecki & Spiegel und erschufen deshalb ein "Therapie-Album" zur Überbrückung von trostlosen Zeiten.
Vladyslav Sendecki (Piano) & Jürgen Spiegel (Schlagzeug, Percussion) sind herausragend virtuose Musiker, das steht außer Frage. Ob man sich mit ihrer Art der Verkörperung von modernem Jazz arrangieren kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Dazu benötigt man nämlich grundsätzlich offene Ohren und den Mut, sich mit den Ideen künstlerisch begabter Musiker auseinandersetzen zu wollen, auch wenn dies ab und zu ins Land der Improvisation führen kann. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann eigentlich nichts mehr schief gehen, denn wie gesagt, die Fähigkeiten des Duos sind außergewöhnlich. Nach "Two In The Mirror" aus 2019 legen die Musiker jetzt nach und präsentieren 13 neue Einspielungen, die sich auf 63 Minuten Laufzeit verteilen.
Musik ist gut für den Körper und Balsam für die Seele. Das weiß jeder, der sich in akustischen Reizen verlieren kann, sie als Genuss begreift und für den Klänge unverzichtbar für sein Leben sind. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist natürlich noch um ein Vielfaches höher bei Personen, die professionell mit Musik zu tun haben und in irgendeiner Form davon leben. Was grade außerordentlich schwierig ist. Und deshalb brauchen nicht nur der ehemalige Pianist der NDR Bigband, Vladyslav Sendecki und der Percussion-Mann und Produzent Jürgen Spiegel eine Überbrückungs-Hilfe und vor allem Beistand. Aus diesem Grund heißt das neue Werk auch "Solace", was Trost bedeutet.
Die Musiker sprechen davon, dass sie das Album auch für sich selbst als Therapie aufgenommen haben. Es soll positive Stimmungen verbreiten, auch Nostalgie darf gerne aufkommen, aber die Musik ist natürlich noch viel breiter aufgestellt, so dass ein schillerndes Spektrum an Gefühlen aufgeworfen wird. Und es ist immer wieder erstaunlich, welche Klangvielfalt zwei Instrumentalisten aufbauen können, wenn sie ein Gespür für Zeit, Tonmodulation und die Abhängigkeit von Dynamik, Tempo und Lautstärke verinnerlicht haben.
Auch der Tanz ist ein Sinnbild für freien Ausdruck, gelebte Körperlichkeit, feinsinnige Anmut und rhythmische Eleganz. Als Mitglied des Tingvall Trio hat sich Jürgen Spiegel bereits 2020 mit seinen Kollegen Martin Tingvall (Piano) und Omar Rodriguez Calvo (Kontrabass) auf dem Album "Dance" mit dem Thema befasst. Spiegels Komposition "Ballerina" greift diese Assoziationen wieder auf und das Duo verarbeitet spielerisch Eindrücke im Hinblick ihrer Vorstellungen über eine Ballerina. Demnach ist die Tänzerin galant, äußerst beweglich, zügig und auch mal verinnerlicht unterwegs - so ist jedenfalls die Musik aufgestellt.
"New York Streets" ist eine nachtblaue Ballade, die zu später Stunde in verräucherten Clubs laufen könnte. In Zeiten, wenn nur noch ein harter Kern übermüdeter Einzelgänger anwesend ist. Das Stück findet nach einer nachdenklichen Periode aus dem Blues heraus. Dazu werden spritzige Piano-Akkord-Wechsel aufgefahren, um die Nachtschwärmer wach und bei Laune zu halten. Die eingestreuten Improvisationen stören dabei die ursprüngliche, getragene Melodie nicht, so dass das Stück jeden, der sich seiner Melancholie hingeben möchte, durch belebende Faktoren stützt.
"Contemplation" hält, was der Name verspricht. Besinnung, Einkehr und innere Konzentration sind angesagt. Solch eine Assoziation wird durch tropfende und perlende, mit Pausen durchzogene und liebevoll gestreichelte Piano-Töne sowie zarte und absichernde Schlagwerk-Zutaten erreicht. Die Vortrags-Bezeichnung "Furioso" steht für ein leidenschaftlich bewegtes Musik-Stück. Sendecki & Spiegel begegnen dieser Aufforderung mit einer Komposition, die sich wellenartig auszubreiten scheint. Wobei die Höhe der Wellen variiert und auf diese Weise ein organisch auf und ab schwellender, akustischer Seegang simuliert wird.
Trost spenden kann grundsätzlich nur eine Person, die Kraft, Zutrauen, Mut, Wärme und Zuversicht ausstrahlt. Deshalb laufen die vom Stück "Solace" übermittelten Emotionen auch aus Sicht eines Trostspendenden ab, der verständnisvoll und weise ist. Der Trostsuchende kann sich also an den beschriebenen Tugenden laben und daran genesen. Sendecki verbindet Mitgefühl und Hoffnung mit seinen Aktionen und Spiegel ist dabei der treue Begleiter, auf den man sich in jeder Situation blind verlassen kann. "Just A Few Chords" wirkt dagegen hastig, gereizt und impulsiv. Die Musiker treiben sich gegenseitig voreinander her, ohne dass zu erkennen ist, wer letztlich bei dieser furiosen Jagd im Vorteil ist.
Die Cover-Version von Peter Gabriels "Don't Give Up" aus 1986 war bereits ein Höhepunkt auf der "Two In The Mirror"-Tournee. Im Song geht es um einen Mann, der arbeitslos geworden ist und sich dadurch gegenüber seiner Familie und der Gesellschaft wertlos fühlt. Beim Original singt Kate Bush die Duett-Stimme, die den Protagonisten anfleht, nicht aufzugeben und ihm versichert, dass es Menschen gibt, die an ihn glauben und ihn unterstützen. Die Noten, die aus Kate Bushs Kehle fließen, sind flehentlich und ermutigend, so dass sie in dieser bedrückenden Situation das Selbstwertgefühl wieder herstellen kann. Bei der Sendecki & Spiegel-Variante gibt es keinen Gesang, der die Rolle des Vermittlers übernimmt. Deshalb deuten die Jazz-Stars die Aussage des Liedes auch etwas anders. Neben einer gewissen Traurigkeit schwingen in ihrer Interpretation auch Wut und Trotz mit. Das ist durchaus authentisch und nachvollziehbar, denn es war damals unter anderem die schwierige wirtschaftliche Lage in Großbritannien unter Premierministerin Thatcher, die die Menschen zornig machte und in Notlagen brachte, was Gabriel zu dem Thema inspirierte.
Bei "Still I Rise" schlägt nicht nur der Rhythmus Purzelbäume. Das Stück sprudelt hervor wie ein klarer Gebirgsbach, der sich talwärts seinen eigenständigen Weg suchen darf. Spritzige Percussion-Fills assistieren dabei munter dem plätschernden Piano auf dem Weg ins Meer. Der "Letter To Myself" ist eine intime Angelegenheit geworden. Das innige Zwiegespräch zwischen Klavier und Schlagzeug gleicht einer Meditation, die nicht nur nach innen gerichtet ist, sondern eine nach außen gelenkte Strahlkraft besitzt, die die Hörerschaft in diese persönlichen Betrachtungen mit einbezieht.
Der Begriff "Partita" kommt aus der klassischen Musik und hat im Laufe der Jahre mehrere Bedeutungen erhalten. So steht er für eine Folge von Variationen über eine populäre Melodie, wird als Bezeichnung für ein Instrumentalstück benutzt oder beschreibt die Abfolge von Instrumental- oder Orchesterstücken, die ohne längere Pausen hintereinander gespielt werden. Das Wort ist also ein Synonym für eine Suite. Hier sind die Grenzen zwischen Klassik und Jazz allerdings fließend, denn diese Einteilungen und damit die Bedeutung des Begriffes "Partita" ergeben sich eher zufällig, abhängig davon, welchen Erfahrungsschatz der Einzelne beim Hören mit einbringt. Romantik steht allerdings im Vordergrund der Komposition.
"Punk Talk" hat wenig mit Punk-Rock im engeren Sinn zu tun. Zwar ist das Tempo hier relativ hoch und der Rhythmus scheppert, es fehlt jedoch eine richtig aufmüpfige Haltung, um diesem Gebilde außerordentlich anarchisch-abtrünnige Verhaltensweisen zuordnen zu können. Eine musikalische Revolution findet nicht statt, bahnt sich höchstens im Geheimen an. Die Musiker haben aber hörbar ihren Spaß an dieser überwiegend ausgelassenen Spielweise.
"Exhibition" ist da schon freizügiger, verzichtet aber im Wesentlichen auf eine führende Melodie, nährt sich stattdessen von losen, experimentellen Darstellungen, ohne dabei verschroben-verschreckend zu sein. Wir haben es hier mit einer unkonventionellen Haltung zu tun, die Raum für Erkenntnisgewinne und Fantasien schafft.
"Little People" steht zum Abschluss der Platte stellvertretend für viele Einflüsse auf "Solace": Durch leichtflüssige Träumereien, ernsthafte Kunstaussagen, verspielte Klangabenteuer und eine perfekte Abstimmung der instrumentalen Zuordnungen wird ein Klang-Modell erschaffen, dem das Korsett "Jazz" schon längst zu eng geworden ist. Zum Glück gibt es noch keine Marketing-Schublade, mit der solch eine schöne, geistreiche Musik abgestempelt und damit reduziert werden kann.
"Solace", aufgenommen in dem neu gebauten Konzertsaal JazzHall in Hamburg, ist wieder ein audiophiles Erlebnis geworden. Die Töne kommen klar und räumlich voneinander abgegrenzt, in einem natürlich ausgewogenen Sound aus den Lautsprechern. Aber nicht nur der Sound ist besonders, auch die Interaktion zwischen den Musikern ist noch feinfühliger geworden. Es ist absolut brillant, welche harmonische Synthese die Musiker eingehen. Sie agieren, als wären sie telepathisch miteinander verbunden, absolut schwerelos, logisch, innig, reif und kreativ stellen sie sich aufeinander ein. Sie klingen wie eine Person, die alle Instrumente gleichzeitig spielt, so selbstverständlich zusammengehörig klingt das. Perfekte, intuitiv beseelte Interaktion hat also zwei Namen: Sendecki & Spiegel.