Pur, gefühlvoll und virtuos wird von Martin Tingvall die Rückkehr des Lichts beschworen.
"When Light Returns" ist eine reine Piano-Solo-Platte. Martin Tingvall kann auch unter diesen Bedingungen eine dreiviertel Stunde mit Stücken füllen, die vom introvertierten Jazz und von der romantischen Klassik beeinflusst sind, ohne zu langweilen. Das können nur wenige Künstler, Keith Jarrett zum Beispiel, der leider aus Alters- und Krankheitsgründen keine Musik mehr machen kann. Aber es gibt ja Martin Tingvall, der Mann der vielen Kontakte und unterschiedlichen Projekte und Perspektiven, der Stille effektvoll mit wirksamen Emotionen füllen kann.
Tingvall wurde 1974 in Schweden geboren. Er ist ein studierter Musiker mit Abschluss, wobei die Fächer Jazzklavier, Komposition und Improvisation Schwerpunkte seiner Ausbildung darstellten. Nach seinem Diplom-Abschluss zog er 1999 nach Hamburg, wo er mit Musikern wie Udo Lindenberg, Gunther Gabriel, Orange Blue oder Inga Rumpf zusammenarbeitete. Seit 2003 gibt es das Tingvall Trio, dem neben Martin noch Omar Rodriguez Calvo am Bass und der Schlagzeuger Jürgen Spiegel angehören. Unter anderem sorgten die Werke "Cirklar" (2017) und zuletzt "Dance" (2020) auch außerhalb der Jazz-Szene für Aufmerksamkeit. Neben den Trio-Werken gab es auch immer wieder Solo-Platten, wie zum Beispiel 2015 das Album "Distance" und 2019 "The Rocket".
In seiner Karriere räumte der virtuose Künstler allerlei Preise, wie den Deutschen Musikautorenpreis der GEMA in der Kategorie "Jazz/Crossover" im Jahr 2019 ab. Auch im Rahmen von Film- und Fernsehmusik ist er tätig. So hat er zum Beispiel für die Tatorte "Zorn", "Grenzgänger" und "Durchgedreht" sowie unter anderem für die Fernsehfilme "Für eine Nacht... und immer?", "Die Sache mit der Wahrheit" und "Die Toten von Marnow" die Musik komponiert.
Für Martin Tingvall scheint es keine musikalischen Schranken zu geben. So erschuf er gemeinsam mit Daniel Karasek, dem Intendanten des Kieler Staatstheaters sowie der Dramaturgin Kerstin Daiber und Regy Clasen, der für die Songtexte zuständig war, aus William Shakespears Verwechslungskomödie "Was ihr wollt" ein Musical. Selbst mit Rolf Zuckowski, der durch seine Kinder- und Weihnachtslieder bekannt wurde, hat er 2017 für das Weihnachtsalbum "Wär uns der Himmel immer so nah" im Studio gestanden. Die Bandbreite des Handelns von Martin Tingvall ist enorm! Nun gibt es also wieder ein Piano-Solo-Werk. Ohne doppelten Boden sowie (fast) ohne zusätzliche Instrumente und Effekte findet die neue Aufführung statt. Ein Mann und sein Instrument im Dialog, gelenkt durch messerscharf geschulten Intellekt und sensibel-individuellen Ausdruck.
Das titelgebende "When Light Returns" schlägt einen Bogen vom weihevoll-getragenen, verheißungsvollen, balladesken, idyllisch-empfindsamen Spiel zu einem perlend-beschwingten, Horizonte öffnenden, achtsam-optimistischen Ablauf. "Hide And Seek" gelangt von einer romantischen Spielerei zu einem Blues-gefärbten Track, zu dem Martin (nicht nur hier) kaum wahrnehmbaren Singsang beiträgt. Vielleicht eine Referenz an Keith Jarrett? Das Album wurde offensichtlich mit einem empfindlichen Equipment aufgenommen, das jede Schwingung erfasst, denn auch beim heiteren "Little Star" ist ein leichtes Rumpeln, Dröhnen oder Donnern zu vernehmen, das anscheinend von Tingvall nebenbei erzeugt wird und dem eingängigen, melodischen Stück eine natürlich-offene Umgebung verschafft, abseits der Isolierung durch das Tonstudio.
Der Frühling ist die Zeit des Erwachens, des Neubeginns und der erfreulichen Aussichten. "Spring" befreit sich jedoch nur langsam aus einem Kokon aus Eis, Schnee und Frost und taut auch nicht gänzlich auf. Der Track verbleibt sinnbildlich in einem unklaren Zustand zwischen Traum und Erwachen. Und noch eine Metapher: Der Leuchtturm wird an exponierter Stelle aufgestellt, um herauszuragen, damit sein Licht deutlich erkannt wird und er seine Warnaufgabe zuverlässig erledigen kann. Entsprechend wach und frisch quellen die Töne für "At The Lighthouse" aus dem Piano. Nicht unbedingt aggressiv-übermütig, aber schon bestimmend-selbstbewusst.
Was mögen die "Yellow Fields" sein, die Martin zu diesem konzentriert-versunkenen, malerisch-herzerwärmenden Stück inspiriert haben? Vielleicht die im Mai leuchtend gelb blühenden Rapsfelder, die nicht nur durch ihre Farbe, sondern auch durch ihren intensiven, ölig-süßlichen Geruch betören. Ein Menuett ist ein französischer Gesellschaftstanz aus der Barockzeit, der aus heutiger Sicht ziemlich gestelzt, ungelenk und affektiert aussieht. Martin Tingvalls "Menuett" klingt deshalb auch nach alter Musik - ist also in der Klassik zuhause - kann aber durch harmonische Überleitungen einen generellen, elitär überdrehten Eindruck abwehren.
Wenn ein Track schon "Clear Sky" heißt, dann sollten auch klare, helle Töne im Vordergrund stehen. Das ist auch hier weitgehend so. Feingeistig werden die leuchtenden, klirrenden Töne von tragfähigen Klängen im mittleren und unteren Frequenzbereich unterlegt, so dass eine mehrschichtige Kaskade entsteht. Das Thema Tanz als Gedankenrhythmus oder als koordinierter Bewegungsablauf ist für Martin Tingvall schon immer eine große Anregung gewesen. So vermittelt auch der Titel "Dancing Trees" eine gewisse körperliche Beschwingtheit, die sich aber im ästhetisch galanten Ausdruck niederschlägt und nicht in sinnlich-erotischen Zuckungen.
Bei den etwas rustikalen Momenten von "Fireflies" fallen sofort russische Komponisten wie Rachmaninoff, Strawinski oder Schostakowitsch ein, die neben melancholischen Passagen auch gerne derbe Lebensfreude ausdrückten. Langsam, verträumt und hinreißend melodisch wie ein Adult-Pop-Song kommt dann "Country Road" daher. Hier wäre Gesang angebracht und wertsteigernd gewesen, um das gesamte Potential der Komposition heben zu können.
"Old Friend" beherbergt eine Taktfolge, von der man glaubt, sie schon mal gehört zu haben, so populär-allgemeingültig klingt sie. Aufgrund seiner Erfahrung mit dem Erfinden von Soundtracks und Werbejingles weiß Tingvall genau, mit welchen Klängen die Wirkung von Bildern abgebildet, verstärkt oder abgeschwächt und daneben ein Kopfkino erzeugt werden kann. Hat er bei "Old Friend" vielleicht tatsächlich Erlebnisse mit einem alten Freund im Kopf gehabt, als er das Stück ersann? Möglich wäre es, so intim und freudig wie es klingt.
Das abschließende "Flying Carpets" treibt seine intime, eindringliche Schönheit auf die Spitze. Durch das Einbeziehen von Glockenspiel-artigen Tönen wird die Zerbrechlichkeit erhöht und der Flügel arbeitet verbindend und kraftvoll dagegen an, damit das Gebilde nicht auseinander fällt. Aber auch ein leises, sensibles Element bekommt ganz alleine für sich seinen Platz eingeräumt und die hellen Klang-Tropfen entschwinden am Ende in die Stratosphäre.
Martin Tingvall kann sich sowohl in Schnulzen verlieren wie sich auch für Thelonious Monk, Bill Evans und McCoy Tyner begeistern. Sentimentalität und Ernsthaftigkeit haben auch Einzug in die Kompositionen von "When Light Returns" gefunden, denen bestimmte Gedankenspiele zugrunde liegen. Gibt es bei Instrumental-Stücken keine Erklärung vom Künstler, wie es zu den Namen gekommen ist, kann nur gemutmaßt werden, was dahinter steckt. Aber das Licht ist als Sinnbild für Hoffnung, Neuanfang und Sieg gegen dunkle Mächte Bestandteil und Antrieb für die Musik von Martin Tingvall. Auch wenn Traurigkeit über den Noten liegt, führt sie nicht zur Lähmung des Ausdrucks, sondern bildet nur die Talsohle ab, aus der es zu entkommen gilt. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt und im Spiel von Martin Tingvall ist Hoffnung ständig präsent.