Alle Jahre wieder! Wie untermalt man kultiviert und sinnvoll die besinnliche Weihnachts-Zeit?
Jetzt ist sie wieder ganz nah, die mit den meisten Emotionen beladene oder sogar überladene Zeit des Jahres. Für manche befriedigt sie eine Sehnsucht, manche denken nur mit Grausen an sie. Genauso verhält es sich mit der Musik zum Fest der Feste: Manchen kann es gar nicht kitschig-gefühlsduselig genug sein, andere wenden sich mit Magenschmerzen ab, wenn sie an die nächste Christmas-Songs-Offensive denken.
Es gibt tatsächlich nur wenige Festtags-Aufnahmen, die einen guten Ruf bei anspruchsvollen Musikliebhabern haben, wie "One More Drifter In The Snow" von Aimee Mann aus 2006 oder die "Christmas EP" von Low aus 1999. Die meisten Veröffentlichungen mit Weihnachtsmusik sollen offensichtlich nur das jährliche Versprechen nach Behaglichkeit und Gemütlichkeit bedienen, sind aber so oberflächlich, belanglos und aufgebraucht, dass sie ihr Pulver schnell verschossen haben oder sich sowieso nur als sinnentleerte Rohrkrepierer erweisen.
Mit "First Noel" befindet sich der Trompeter Ibrahim Maalouf in guter Gesellschaft zu seinem Kollegen Till Brönner, der auch aus gutem Grund am 16. November 2021 sein "The Christmas Album" veröffentlichen wird, um den Markt der Sentimentalitäten zu erweitern und zu befriedigen. Bei diesen Gedanken setzt auch Ibrahim Maalouf an, dessen X-Mas-Werk am 5. November 2021 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Genau rechtzeitig also, um noch auf den Auslagen der Plattenläden vor dem Weihnachtsgeschäft präsent zu sein. Maalouf hat eine Auswahl von Evergreens, durchzogen von in unseren Breiten weniger bekannten Stücken sowie drei neue, exklusive Kompositionen ausgewählt. Die Einspielungen wurden zusammen mit François Delporte (Gitarre), Frank Woeste (Klavier) und Sofi Jeannin (Chorleiterin) sowie 8 Sängerinnen und Sängern umgesetzt.
Ibrahim Maalouf wurde 1980 in Beirut (Libanon) als Sohn einer Pianistin und eines Trompeters geboren. Beide Instrumente gehören auch zum Repertoire des Künstlers, der mit seinen Eltern als Kind vor dem Bürgerkrieg in einen Vorort von Paris floh. Talent und Ehrgeiz ließen ihn schon als Teenager zu einem renommierten Musiker heranwachsen, der nicht nur klassische Werke aufführte, sondern sich auch für arabische Folklore, Soundtracks, (Elektro)-Pop, französische Chansons, Soul und HipHop interessierte. Heute hat er schon eine glänzende Karriere hinter sich, mit Gastauftritten für z.B. Sting, Melody Gardot, Amadou & Mariam oder Juliette Gréco. Ganz zu schweigen von seinen eigenen Tonträgern, die ihn als Kenner von atmosphärisch dichten Sounds ausweisen, die sich nicht nur bei den erfolgreichen Filmmusik-Projekten für z.B. "Red Rose" (2014), "Yves Saint Laurent" (2014) und "Radiance" (2017) bewährt haben. Darüber hinaus betätigte sich der vielbeschäftigte Künstler auch noch als Trompetenlehrer.
Ibrahim Maalouf ist ein Trompeter, der sich für "First Noel" ausschließlich im tonalen Bereich bewegt, also eher mit dem melodischen Chet Baker als mit dem frei aufspielenden Miles Davis zu vergleichen ist. Experimente sind hier jedenfalls nicht zu erwarten. Maalouf spielt sauber, fließend, trotzdem mit Abstufungen im Klangbild und mit viel Gefühl. Immer wieder erstaunlich, was aus diesem im Grunde genommen "starren" Instrument rauszuholen ist. Wenn Ibrahim seine melodisch fließenden Trompetenklänge verbreitet, dann legt sich Ruhe und Behaglichkeit über den Raum, ein Zustand, der gerne für die Feiertage angestrebt wird. Von daher wird das grundsätzliche Ziel einer Weihnachtsplatte erfüllt, denn wir haben es traditionell mit einer relativ festgelegten Erwartungshaltung zu tun, wenn es um die Beschallung der Weihnachtszeit geht.
Zu den ausgewählten, allgemein bekannten Weihnachts-Liedern gehören "Have Yourself A Merry Little Christmas" und "Mon beau sapin" (= "O Tannenbaum"), die in getragenem Tempo dargeboten und mit Glöckchen, gedämpfter Piano-Begleitung, sphärischen Chor-Gesängen oder glasklaren, tropfenden E-Gitarren-Tönen ausgestattet werden, um für eine heimelige Stimmung zu sorgen. Das swingende "Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!" lässt die Schneeflocken in Gedanken munter durcheinander tanzen und "The First Noel" wurde als hymnische Ballade angelegt. Dann gibt es noch "Silent Night", wo engelsgleiche Sängerinnen durch ihre Stimmen einen Kokon von immateriell erscheinenden Schwingungen erzeugen und "Jingle Bells", das in seinen zwei Minuten von einem leichten, unkomplizierten Swing begleitet wird. "White Christmas" gehört eigentlich in das Great American Songbook, zumindest wurde das Lied von Irving Berlin geschrieben, bekam einen Oscar und führte in der Version von Bing Crosby zur weltweit meistverkauften Single. Ibrahim Maalouf verwaltet dieses Erbe und spielte eine respektvolle Variante ein.
Zu den weniger gebräuchlichen Melodien gehören "Il est ne le divin enfant", bei dem ein inniges, romantisches Zwiegespräch zwischen Piano und Trompete mit "Engels-Chor"-Begleitung stattfindet. Beim sanftmütigen "O Holy Night" werden Gitarre, Piano und Trompete durch den Chor in himmlische Gefilde geführt und sind dabei nahezu gleichberechtigt unterwegs. Für "Petit papa noel" sondert die Trompete traurige, graue Töne ab und das Piano bestärkt diese Sentimentalität, so dass der Track eine gedrückte Stimmung hinterlässt.
Ibrahim Malouf baut auch klassische, christlich geprägte Kirchenlieder in seinen Reigen ein: "Ave Maria" wurde 1852 von Charles Gounod auf Basis des Präludium Nr. 1 in C-Dur aus Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertem Klavier" komponiert und erhielt 1859 den Text des lateinischen Gebets "Ave Maria" zugewiesen. Das Lied wird seitdem traditionell bei Beerdigungen und Hochzeitsmessen verwendet, hat sich aber auch mehr und mehr für die Vertonung von christlichen Advents-Gottesdiensten durchgesetzt. Auch Ibrahim gestaltet diese Komposition feierlich und würdevoll. Das "Ave Maria" von Franz Schubert hat eine andere Melodie als die Gounod/Bach-Komposition, die aber eine ähnlich andächtig-demütige Kraft versprüht, was auch in der neuen Fassung zum Tragen kommt. Man spürt, dass es für den Trompeter eine besondere Herausforderung und ein Reiz ist, diesen klassischen Vorlagen gerecht zu werden. "Adeste fideles" wird häufig in der englischen Variante unter dem Namen "O Come All Ye Faithful" vertont. Der Ursprung des Songs stammt schon aus dem 18. Jahrhundert. Auch "First Noel" präsentiert sich als sakral-geistliches Kirchenlied. "Hark! The Herald Angels Sing" ist auch ein englisches Weihnachtslied, das sich allerdings bis zum Jahr 1739 zurückverfolgen lässt. Es bezieht sich auf die Ankündigung der Geburt von Jesus. Der libanesisch-französische Trompeter hat der Komposition seine ehrfürchtige Stimmung gelassen und die Laufzeit auf etwas über eine Minute beschränkt. "God Rest Ye Merry, Gentlemen" ist sogar noch älter und geht mindestens auf das 16. Jahrhundert zurück. Entsprechend atmet das Stück den Geist des Zeitalters der Renaissance, wobei es hier überwiegend im modernen Schliff und luftig erklingt.
Es sind diese etwas abseitigen Kompositionen, die sich hervortun und für eine relativ abwechslungsreiche Auswahl sorgen. So wie das libanesische "Shubho lhaw qolo", das sich wie ein Sergio-Leone-Western-Soundtrack anhört, bei dem leichte arabische Elemente eingeflossen sind. Oder "Holly Jolly Christmas", ein flotter Jazz-Swing mit rhythmischer E-Gitarre und füllendem Piano. Auch "Santa Claus Is Coming To Town" bekommt ein Old-Time-Jazz-Klima verordnet. "We Wish You A Merry Christmas" ist in England so populär, dass es dort eigentlich als Folk-Song gilt. Dem wird durch ein Arrangement unter Einbeziehung einer akustischen Gitarre im Ansatz Rechnung getragen.
Aber es gibt auch nicht ganz so alte Vorlagen: "Winter Wonderland" wurde vom US-amerikanischen Dirigenten, Pianisten und Komponisten Felix Bernard komponiert und vom US-amerikanischen Komponisten Richard B. Smith getextet. Die erste Aufnahme ist von Richard Himber and His Ritz-Carlton Orchestra und stammt aus dem Jahr 1934. Das Lied erfreut sich bis heute einer großen Beliebtheit und wurde von über 200 verschiedenen Musikern aufgenommen, unter anderem 1960 von Ella Fitzgerald, 1964 von Doris Day und 1987 von den Eurythmics. Ibrahim Maalouf macht daraus ein Stück, das von sakralen Tönen eingeleitet und dann von jazzig-brasilianischen Klängen aufgefangen wird. "Light A Candle In The Chapel" zelebriert ergreifend und bedächtig unter Verwendung eines esoterischen Überbaus eine Stimmung, bei der jegliche Anspannung abfällt. Im Original ist dies ein Song von Frank Sinatra, den er 1942 mit der Tommy Dorsey Band in New York als Big-Band-Schnulze im Stil von Glen Miller interpretierte.
"I'll Be Home For Christmas" war 1943 ein Top-Ten-Hit für Bing Crosby und Elvis nahm den Track 1957 auf. Maalouf erlaubt sich eine dynamische, nach hinten raus relativ ausgelassene Jazz-Version. "It's Beginning To Look A Lot Like Christmas" kommt aus dem Jahr 1951 und erhielt damals durch Perry Como und Bing Crosby einen hohen Bekanntheitsgrad. Eine weitere populäre Version ist von Michael Bublé aus dem Jahr 2011. Die aktuelle Variante klingt wie ein Pop-Song, dem der Gesang fehlt. "What A Wonderful World", das 1967 von Louis Armstrong zelebriert wurde, ist kein klassisches Weihnachtslied, aber eine Generationen und Kulturen verbindende Hymne eines großen Entertainers und Trompeters. Ganz vorsichtig und bedächtig tritt Ibrahim mit Demut in diese großen Fußstapfen. Die jüngste Adaption auf "First Noel" dürfte "All I Want For Christmas Is You" von Mariah Carey sein, das 1994 ursprünglich als pompös aufgeblasener, schwungvoller Pop-Song dargeboten wurde. Ibrahim Maalouf nimmt das Tempo raus und macht daraus einen Late-Night-Jazz mit Weihnachts-Verzierung.
Die drei neuen Kompositionen stammen aus der Feder von Ibrahim Maalouf und runden das festlich geschmückte Bild ab: "Noel For Nael" hat er für seinen in 2021 geborenen Sohn geschrieben. Der Track vermittelt die Ruhe und Behaglichkeit eines Schlafliedes. Die gleiche Stimmung verbreitet auch "Christmas 2009", während "The Last Christmas Eve" jede Menge Ergriffenheit transportiert, so dass anzunehmen ist, dass Ibrahim den Track zum Gedenken an seine verstorbene Großmutter geschrieben hat.
"First Noel" ist dem Easy Listening-Jazz zuzurechnen, steht also für gepflegte Unterhaltung. Das Werk nervt nicht - wie viele andere X-Mas- Veröffentlichungen - mit penetrant aufgesetzter Fröhlichkeit oder schmalztriefender Gefühlsduselei, es traut sich aber auch nicht, aus der grundsätzlich besinnlich besetzten Stimmung auszuscheren, die am Weihnachtsfest traditionell so viele Räume füllt. Deshalb kann man das Album zwar gut im Hintergrund als Berieselung laufen lassen, wenn aber Weihnachts-Musik gesucht wird, die die Sinne nachhaltig anregt oder die auch außerhalb der Weihnachtszeit nicht unpassend wirkt, dann sollte vielleicht doch eher zu Aimee Mann oder Low gegriffen werden.
Die aufgebaute Gefühlswelt von "First Noel" ist zweckgebunden auf das Weihnachtsfest zugeschnitten, was die Möglichkeiten von Ibrahim Maalouf einengt, er kann deshalb gar nicht richtig zeigen, was in ihm steckt. Dies wird unter anderem ganz prächtig auf dem Vorgänger "40 Melodies" demonstriert, bei dem sich Maalouf als fantasievoller, virtuos aufspielender, Genre sprengender Duett-Partner zeigt, der jeder Komposition ein individuelles Muster mitgibt.
Ein Vergleich zwischen "40 Melodies" und "First Noel" macht deshalb Sinn, weil es die unterschiedliche Herangehensweise des Künstlers verdeutlicht. Der brillante Musiker dient auf “First Noel” der Vorgabe, eine festliche Atmosphäre zu erschaffen, auf die er sich fokussiert. Auf “40 Melodies” kann er seine Kreativität voll entfalten, weil keine "Erwartung" vorgegeben ist. Das führt zu einer hohen Flexibilität, für "First Noel" erschafft er hingegen Homogenität. Maalouf hält hier inne, konzentriert den Klang auf einen feierlichen, friedlichen Wohlfühlaspekt. Der Sound scheint stellenweise von jeglichem körperlichen Ballast befreit zu sein und erhält dadurch eine weich gezeichnete Unschuld. Das ist eine angemessene Form, Weihnachtslieder zu interpretieren und deshalb kann "First Noel" ein sinnvoller Begleiter für die Festtage sein, weil die Töne nicht übertrieben schmalzig und gradlinig präsentiert werden. Das Album war für Ibrahim Maalouf eine Herzensangelegenheit, denn 2021 wird das erste Weihnachten ohne seine geliebte Großmutter Odette sein.
Fazit: Künstlerisch verkauft sich Maalouf unter Wert, weil ihn die Erwartungshaltung für ein extra für die Festtage zugeschnittenes Werk in seinen Möglichkeiten zu sehr einschränkt und das Ergebnis relativ berechenbar ist, so dass die Töne auch als Gebrauchsmusik Anwendung finden könnte. Das wäre wohl nicht unbedingt im Sinne des Künstlers und würde ihm auch nicht gerecht werden. Wenn man ihn jedoch mit anregend-spannender Unterhaltung erleben möchte, dann sollte ohne Bedenken zu z.B. "40 Melodies" gegriffen werden. Da stellt Ibrahim Maalouf noch eindrucksvoller unter Beweis, was für ein vielseitiger, ausdrucksstarker Musiker er ist.