Hasaan Ibn Ali: Ein visionär-virtuoser Piano-Hexer zwischen Tradition und Improvisation.
Die Veröffentlichung von Hasaan Ibn Alis "Retrospect In Retirement of Delay: The Solo Recordings" deckt Aufnahmen von einer fast vergessenen, überaus talentierten Persönlichkeit des Jazz auf, die aufgrund einer Verkettung von unglücklichen Umständen nicht den Bekanntheitsgrad und Ruhm erlangen konnte, die es verdient gehabt hätte. Solche tragischen Geschichten gibt es immer wieder im Musik-Business, man denke nur an die Folk-Musiker Jackson C. Frank und Phil Ochs, deren Karrieren auch in Katastrophen endeten.
Der etwa 1949 zum Islam konvertierte Hasaan Ibn Ali wurde 1931 als William Henry Langford jr. in Philadelphia (Pennsylvania, USA) geboren und wuchs als Sohn einer Hausfrau und eines Kochs auf. Das Klavierspielen brachte sich William als Kind selber bei. Als Vorlage dienten ihm einige Boogie-Woogie-Platten. Schon mit 15 Jahren hatte der eifrige Musiker seinen ersten Auftritt in einer Big-Band. Er stürzte sich in die Verbesserung seines Spiels, probte wie besessen und konnte mit seinem unorthodoxen Konzept, bei dem melodische Fetzen mit freiem Spiel zu einem gefühlvoll aufwühlenden Klang verbunden werden, sogar John Coltrane, Sonny Rollins und McCoy Tyner beeinflussen.
Zu Lebzeiten wurde nur das Album "The Max Roach Trio featuring The Legendary Hasaan" im Jahr 1965 veröffentlicht. Das Jahr 2021 brachte jetzt ein Revival des Jazz-Pianisten zutage. Zuerst wurde das lange als verschollen geglaubte zweite Studio-Album aus 1965 veröffentlicht, das damals aufgrund von Hasaans Verurteilung wegen Drogenbesitzes nicht auf den Markt kam. Das in Quartett-Besetzung eingespielte Werk wurde im März unter dem Namen "Metaphysics: The Lost Atlantic Album" im März herausgebracht.
Am 19. November erscheint nun "Retrospect In Retirement of Delay: The Solo Recordings". Das ist eine Sammlung von Probe-Aufnahmen, die zwischen 1962 bis 1965 an der University of Pennsylvania oder in verschiedenen Wohnungen mitgeschnitten und vom Institut Of Jazz Studies, einem Spezialarchiv der Bibliotheken der Rutgers University am Newark Campus, für eine Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurden.
Es gibt bei dieser Ausgrabung 14 Fremd- und 7 eigene Kreationen zu hören. Bei den Fremdkompositionen bediente sich Hasaan ausgiebig beim "Great American Songbook". So hat er unter anderem "Falling In Love With Love" und "Lover" von Richard Rodgers & Lorenz Hart, einem Broadway-Songwriter-Team aus den 1920er und 1930er Jahren ausgewählt. "Falling In Love With Love" findet sich unter anderem auch im Rat-Pack-Repertoire wieder. Mal schwungvoll (Sammy Davis jr, 1963) und mal verliebt schmachtend (Frank Sinatra, 1946) dargeboten.
Ibn Ali nähert sich zunächst der ruhigeren Variante an, lässt die Melodie erkennbar, aber eigenwillig anklingen, um dann über harte und schnelle Tastenschläge eine leicht exzentrische Demontage zu erreichen. Diese eingängigen und provokanten Passagen wechseln sich über die 7 Minuten Laufzeit hinweg ab. "Lover" wurde unter anderem von Peggy Lee Anfang der 1950er Jahre als eine rhythmisch aktive Ballade interpretiert. Hasaan lebt sich in seiner 15minütigen Fassung umfangreich aus. Das Prinzip von Zuckerbrot (= melodische Tupfer) und Peitsche (= rasende Attacken) wird wirkungsvoll stimulierend angewendet, wobei die Töne mächtig aufgebauscht voran preschen. Der Cecil Taylor-artige Geschwindigkeitsrausch überwiegt allerdings gegenüber der Harmonie.
Außerdem gibt es noch zwei Vertonungen von Irving Berlin-Songs. Berlin ist der Verfasser von solchen Gassenhauern wie "Cheek To Cheek" oder "Puttin` On The Ritz". Hier gibt es jedoch "They Say It’s Wonderful" aus dem Musical "Annie Got Your Gun" zu hören. Diese rührselige Ballade wurde unter anderem auch von Frank Sinatra (1946), Doris Day (1960) und Johnny Hartman mit John Coltrane (1963) vertont. Die Ibn Ali-Variante stammt aus 1962 und greift die Romantik der Vorlage immer wieder auf, lässt sich aber nicht auf Gefühlsduselei ein, sondern sucht einen Ausweg daraus durch Dynamiksprünge. Das zweite Berlin-Lied heißt "How Deep Is The Ocean" und wurde zum Beispiel 1946 von Billie Holiday als swingender Blues und 1961 vom Bill Evans Trio als verspielter Bar-Jazz umgesetzt. Hasaan respektiert den Ursprung der Komposition, durchzieht sie indessen mit dramatischen Ausbrüchen und flinken Akkorden, so dass sie ein unruhig-aufgeregtes Antlitz erhält.
"Yesterdays" ist eine Schöpfung von Jerome Kern (Musik) und Otto Harbach (Text) aus 1933. Hasaan spürt der Nostalgie nach, die tief im Original steckt, findet aber immer wieder Wege hinaus aus der Melancholie. Die Ballade "It Could Happen To You" von Jimmy Van Heusen (Musik) und Johnny Burke (Text) aus 1944 geriet zur Steilvorlage für etliche Künstler, die ihr Repertoire um eine ruhige, cool swingende Nummer erweitern wollten. Dazu zählen Miles Davis und Chet Baker genauso wie Chic Corea und Keith Jarrett oder Frank Sinatra und Robert Palmer. In über 13 Minuten zelebriert Hasaan eine Sichtweise, die weit über süßliche Vergangenheitsverherrlichung hinaus geht. Und das, obwohl seine Töne sehr wohl vergangene Zeiten aufleben lassen, weil sie von Klängen gespeist werden, die an frühe Jazz-Aufnahmen erinnern. Dennoch entledigt er sich immer wieder dem Verdacht, musikalisch rückwärts orientiert zu sein, weil seine Interpretation einfach zu widerspenstig ist.
Zu den weiteren Cover-Versionen gehört der aufsässige Big-Band-Track "Off Minor" (1957) von Thelonious Monk, mit dem Hasaan Ibn Ali oft verglichen wird. Diese Version ist gegenüber dem Original kaum wiederzuerkennen, weil sie stürmischer und vertrackter ausfällt. "Cherokee" von Ray Noble and his Orchestra aus Großbritannien ist ein Swing-Tanz-Titel aus 1938. Hasaan nimmt dem Track seine harmonische Beschaulichkeit und überführt ihn in eine nervös-aufgeladene, störrische Welt, die so gar nicht zum Tanzen einlädt. Auch "Body And Soul" von Johnny Green aus dem Jahr 1930 ist eine Jazz-Standard-Ballade, die zuerst von Louis Armstrong aufgegriffen wurde. Das Lied wird bis heute häufig interpretiert, wie von Billie Holiday (1940), John Coltrane (1960) und Tony Bennett & Amy Winehouse (2011). Die hier aufgeführte Fassung hört sich wie die lebendige Untermalung zu einem Stummfilm an, bei dem sich die Ereignisse überschlagen.
"On Green Dolphin Street" von Bronislaw Kaper (Musik) und Ned Washington (Text) wurde 1947 für das verfilmte Historien-Drama "Green Dolphin Street", das auf einer Novelle von Elizabeth Gouge beruht, entwickelt. Die berühmteste Interpretation des Stückes dürfte die Version von Miles Davis auf der Bonus-Disc von "Kind Of Blue" aus 2008 sein, welche 1959 entstand. Hasaans Fassung stammt aus 1964 und ist aufschäumend und über 10 Minuten lang. Der harte Anschlag erinnert an McCoy Tyner und die lyrische Gelassenheit der Miles Davis-Nummer fehlt hier vollständig.
"Bésame Mucho" (= Küss mich oft) ist ein 1941 von der mexikanischen Komponistin Consuelo Valesquez geschriebener und gesungener sentimentaler Bolero, der sich zum Evergreen gemausert hat. Erwartungsgemäß hat Ibn Ali nicht so eine romantisch-harmonische Sicht auf den Song, er spielt ihn dramatisch, was an den russischen Komponisten Rachmaninow erinnert. Aber auch ein gewisser sprudelnder Improvisationsspaß kommt dabei nicht zu kurz. Der Foxtrot "Sweet And Lovely" von Gus Arnheim, Charles Daniels und Harry Tobias aus dem Jahr 1931 hat damals die Menschen in Scharen auf die Tanzböden gelockt. Das vermag Hasaan Ibn Ali nicht. Zu extravagant und fernab des Foxtrots agiert der Pianist, so dass aus der stimmungsvollen Nummer nun ein wunderliches, der Avantgarde nahestehendes Stück geworden ist.
Schon aus 1929 stammt das bluesige Jazz-Stück "Mean To Me" von Fred Ahlert (Musik) und Roy Turk (Text), das nicht nur in kleiner Besetzung, sondern auch mit großen Orchestern vertont wurde, wie zum Beispiel von Judy Garland (1957) oder von Ella Fitzgerald & Nelson Riddle (1961). Bleibt anfangs die Melodie erkennbar, wird es bei Hasaan bald darauf ruppiger und es wird auch noch aufs Tempo gedrückt.
Zeitlich noch weiter zurück geht es mit dem gefühlvoll-süßlichen "After You’ve Gone" von Turner Layton (Musik) und Henry Creamer (Text), denn das Lied stammt aus dem Jahr 1918 und wurde im selben Jahr von Marion Harris, der ersten weißen Frau, die Jazz und Blues sang, aufgenommen. Es ist klar, dass das Lied bei Hasaan Ibn Ali ganz anders klingt, obwohl auch eine gewisse kitschige Versponnenheit mitschwingt. Es fehlen aber auch hier nicht die eiligen Tonfolgen, die Brüche und die Dynamik- und Tempowechsel, so dass das Original im Laufe der siebeneinhalb Minuten immer weniger wiederzuerkennen ist.
Von seinen eigenen Stücken (wobei "Arabic Song" ein kurzer, wortloser Singsang und "Extemporaneous Prose-Poem" die Rezitation eines Gedichtes ist) fällt das zweiteilige "True Train" als besonders vielfältig hinsichtlich der abgebildeten Stimmungen auf. Von besinnlich bis wild ist alles dabei. "Atlantic Ones" setzt ganz auf Geschwindigkeit und erhöhte Thriller-Spannung. "True Train" und "Atlantic Ones" sind jeweils in zwei unterschiedlichen Takes auch auf "Metaphysics: The Lost Atlantic Album" in energiegeladenen, kreativ umtriebig agierenden Quartett-Besetzungs-Variationen zu finden. Beim moderat lyrischen "Off My Back Jack" wird Hasaan von Alan Sukoenig, dem Kurator dieser Wiederentdeckung, erst wieder daran erinnert, wie der Titel eigentlich abläuft und "Untitled Ballad" wird seinem Namen beinahe gerecht. Hier singt der Pianist sogar ein paar Worte zu der spritzig-emotionalen Komposition.
1972 brach in Hasaans Elternhaus ein Feuer aus, bei dem seine Mutter verbrannte und sein Vater aufgrund der Brandfolgen nicht wieder das Bewusstsein erlangte. Hasaan verkraftete den Verlust nicht, deshalb verbrachte er seine letzten Jahre in einer Nervenheilanstalt, wo er 1980 starb. Zum Glück sind trotz aller Widrigkeiten in Hasaans Leben wenigstens ein paar Aufzeichnungen seiner variationsreichen Musik erhalten geblieben. Freunde und Musiker-Kollegen sprachen davon, dass es noch viel mehr Aufnahmen gab, die aber durch das Feuer im Elternhaus oder durch Diebstahl verloren gingen. Sie hätten wahrscheinlich noch weitere Facetten des visionären Ausdrucks von Hasaan Ibn Ali offenlegen können.
Die Doppel-CD "Retrospect In Retirement of Delay: The Solo Recordings" wurde aufwändig aufbereitet. In einem Papp-Schuber, der mit Detail-Infos zu den Einspielungen versehen ist, stecken die beiden CDs. Dazu gibt es ein 40-Seiten starkes Booklet mit Kommentaren, Entstehungs- und Lebensgeschichten, sowie seltenem Foto-Material und handschriftlichen Briefen. Die Tonqualität ist hinsichtlich des Umstands, dass sie von privaten Magnetband-Aufnahmen stammen, sehr gut. Es gibt nur wenige Aussetzer und kaum Verzerrungen. Ansonsten haben sie mehr Dynamik, als man eigentlich von solchen Amateur-Mitschnitten aus den 1960er Jahren erwarten darf. Die Toningenieure haben also ganze Arbeit geleistet.
Die Stücke der Doppel-CD in einem Rutsch durchzuhören, fordert Durchhaltevermögen und Konzentration, denn sie sind intensiv, teilweise schwierig zu verdauen und erfordern den Mut, sich auf einen Künstler einzulassen, der seinen eigenen Kopf ohne Rücksicht auf Kompromisse durchsetzt. Das ist spannend, manchmal dissonant, aber immer geistreich unterhaltend, denn hier wird ein außergewöhnlich engagierter, virtuoser, visionärer Jazz-Musiker präsentiert.