Wenn Mut über Kalkül siegt, kann wahre Kunst entstehen.
Etwa die ersten 30 Sekunden eines unbekannten Musik-Stücks entscheiden bei vielen Menschen darüber, ob sie weiterhören möchten oder nicht. Wenn das so ist, dann wird Emma-Jean Thackray mit dem Opener "Mercury" ihres ersten Albums "Yellow" all diejenigen verschrecken, die mit Jazz so gar nichts am Hut haben. Eine mutige Wahl! Und schade für die Personen, die nicht die Geduld aufbringen, mehr anzuhören. Sie werden wohl nie erfahren, was sie aufregendes verpasst haben.
Die Bandleaderin, Multiinstrumentalistin und Produzentin, die in Yorkshire/England geboren wurde und nun in London lebt, hat eine klare Linie und ein genaues Ziel vor Augen. "Ich wollte, dass die ganze Sache wie ein psychedelischer Trip klingt. Du legst den ersten Track auf, er führt dich fast eine Stunde lang durch diese intensive Sache, und dann kommst du auf der anderen Seite verwandelt wieder heraus", sagt Thackray über "Yellow". Bei aller denkbaren Lautmalerei gibt es für sie einen ehernen Grundsatz: "Der Groove ist das Wichtigste. Selbst wenn es ein Stück ist, das wirklich verrückt und frei ist und alle möglichen durchgedrehten Sachen passieren, gibt es normalerweise einen Groove - einen Anker, der es festhält." Jawoll, die Frau hat verstanden, worauf es ankommt! Spontane Spielereien sind was für intellektuelle Überflieger, der Groove als Herz und Motor ist was für gewandte, erfahrene, anspruchsvolle Sound-Gourmets.
Emma-Jean Thackray steht eine eingespielte Begleit-Band zur Verfügung, die sie rigoros und kompromisslos für ihre eigenen Zwecke und Vorstellungen ausschlachtet. Wenn es dem großen Ganzen nützt, baut Emma-Jean nämlich brauchbare Elemente aus den Studio-Sessions so um, dass sie zu ihren Kompositionen passen. Alles andere, also Arrangements, Fills, instrumentale Ergänzungen und Gesang bringt sie sowieso selber ein. Sie liebt reichhaltige Sound-Collagen. Brian Wilson, Gil Evans, Alice Coltrane, Madlib und Sun Ra gehören zu ihren Vorbildern, wobei auch Soul und Funk den Sound beeinflussen.
Der Eröffnungs-Track "Mercury" hält Klangsplitter bereit, die Außerirdischen und Klanginstallations-Liebhabern gefallen werden. Aber auch Space-Jazz-Momente finden statt, wie sie in ähnlicher Form schon Alice Coltrane Anfang der 1970er Jahre erdachte. Das hört sich an, als ob Spiritualität mit freiem Jazz und kosmischer Energie zu einer universellen Klangorgie zusammen geführt wird. "Say Something" geht in eine völlig andere Richtung. Moderner Rhythm & Blues bestimmt die Außenwirkung, entführt auf den Tanzboden, lässt den Jazz-Groove aber nicht aus der Verantwortung. Wer Angst vor anspruchsvollem Dance-Pop hat, der animalische Gefühle heraufbeschwört, aber trotzdem kopflastige Prozesse ablaufen lässt, wird sich wundern, wie anregend sowas klingen kann. Das Leitbild des Stückes, das grundsätzlich für das ganze Album gilt, beschreibt Emma-Jean so: "Es ist eine Platte über Zusammengehörigkeit, die Einheit aller Dinge im Universum, das Zeigen von Liebe und Freundlichkeit, menschliche Verbindung. Ich bin an die Platte herangegangen, indem ich versucht habe, eine lebensverändernde psychedelische Erfahrung zu simulieren, eine Stunde, in der wir hinter den Vorhang zu einer verborgenen Dimension sehen, in der die physische Welt wegschmilzt und wir endlich sehen, dass wir alle eins sind."
Und schon wieder dreht sich die Ausrichtung: "About That" ist im improvisierten Jazz angekommen. Blasinstrumente bestimmen mit ihrer Vorherrschaft die Klang-Landschaft, die ungezwungen und aufrührerisch erscheint. "Venus" widmet sich nach einer Orientierungs-Phase dem vom Gospel geprägten Jazz-Funk, bei dem das E-Piano eine gestaltende Rolle übernimmt. Das Stück reißt gesanglich mit und versprüht mit positiver Energie einen unbändigen Tatendrang. "Green Funk" hält mit Emma-Jean Thackray (Stimme, Synthesizer, Trompete), Lyle Barton (Wurlitzer E-Piano, Orgel), Ben Kelly (Sousaphone), Tamar Osborne (Bariton-Saxophon), Chelsea Carmichael (Tenor-Saxophon) und Rosie Turton (Pausaune) eine schlagkräftige Besetzung bereit, um schweißtreibend-komplexe Brass-Band-Töne lässig unter die Leute zu bringen. Betty Davis und George Clinton standen wahrscheinlich für diesen selbstbewussten Track Pate.
Neben einer üppigen Bläser-Fraktion wird für "Third Eye" noch ein Streicher-Terzett und ein dreistimmiger Chor integriert, um einen großformatigen Sound im Stil der freigeistigen Arbeiten des Pianisten und Komponisten Keith Tippetts (Centipede, Tapestry) zu realisieren. Keine Überraschung, denn Tippetts war ein Mentor von Emma-Jean. Das Ergebnis erinnert zusätzlich an aufwändige Broadway-Musicals wie "West Side Story". "May There Be Peace" dockt an die fernöstliche spirituelle Tradition des Taoismus an, die Emma-Jean Thackray durch ihren Vater kennen lernte. Unter Einbeziehung von Gebetsglöckchen wird hier für etwa eineinhalb Minuten ein Mantra beschworen ("May there be peace and love and perfection throughout all creation."/ Möge es in der ganzen Schöpfung Frieden und Liebe und Vollkommenheit geben").
Der cremige Smooth-Soul von "Sun" lässt puren Optimismus gedeihen. Mitreißender Afro-Jazz, glühende Gospel-Opulenz und verdreht aufgeweckter Swing bilden eine verschworene Gemeinschaft, um die Sonne aus der Reserve zu locken. "Golden Green" beschwört dann eine schillernde Pop-Sinfonie herauf, bei der zugunsten einer nachhaltigen Seelenmassage auf schnelllebige Eingängigkeit verzichtet wurde. "Spectre" spinnt diesen Faden weiter. Hier wird ein Tongebilde erzeugt, bei dem der Groove-Grundgedanke als hypnotischer Minimal-Art-Takt die Bodenplatte bildet und die einzelnen Räume des Klang-Gebildes mit Motiven aus Jazz, Soul, Rhythm & Blues und Soundtrack-Fantasien eingerichtet werden. Das alles miteinander verbindende Dach besteht aus dem luftigen, mit Echo versehenem Gesang von Emma-Jean.
Triebhafte Trommeln, beschwörender Gesang und dralle Funk-Jazz-Madness bestimmen den Sound von "Rahu & Ketu", das durchgängig einen erregten Instrumenteneinsatz vorweist, bevor das Stück am Ende in sich zusammenfällt. Das titelgebende, hypnotische "Yellow" setzt auf die manipulative Wirkung des Wortes und ist nach zwei Minuten schon wieder vorbei. New Orleans-Jazz-Druck, schnelle Polyrhythmen, leidenschaftliche, teils monotone Gesangseinlagen und ein streitsüchtiges E-Piano-Solo bestimmen danach das Klangbild von "Our People", bevor für "Mercury (In Retrograde)" einige Akkord-Folgen des Openers umgekehrt werden, wodurch eine psychoakustische Desorientierung erzeugt werden soll.
"Yellow" kann durch Vielfalt, Kreativität und Virtuosität beeindrucken, wobei Emma-Jean Thackray ihre künstlerische Entwicklung einer kommerziellen Ausrichtung vorzieht. Das ist ihr hoch anzurechnen. Sie scheut sich überhaupt nicht, unbequem zu agieren. So hat sie sogar schon für die aggressive Post-Punk-Truppe Squid auf deren Album "Bright Green Field" Trompete gespielt. Die Musikerin legt es generell darauf an, dass sich ihre Hörer und Hörerinnen intensiv mit der Musik auseinandersetzen, denn anders lässt sich ihre Kunst nicht honorieren. Wer sich darauf einlässt, wird als Belohnung mit einem sehr anregenden, anspruchsvollen und befriedigendem Hörerlebnis belohnt. Aber die Hauptsache ist immer, dass der Groove am Leben gehalten wird!