Jazz Is Dead = futuristisches Kopfnicken Richtung Vergangenheit.
Adrian Younge und Ali Shaheed Muhammad haben grade einen produktiven Lauf: Im April 2020 kam unter ihrer Regie "Jazz Is Dead 001", eine Platte mit verschiedenen namhaften Musik-Größen, die zusammen mit aufstrebenden Talenten spielten, auf den Markt. Am 31. Juli 2020 folgte die physische Veröffentlichung einer Zusammenarbeit mit dem innovativen Jazz-Groove Vibraphonisten Roy Ayers ("Roy Ayers JID 002") und nun gibt es bereits das nächste Projekt in Form einer gemeinsam entwickelten Musik mit der brasilianischen Bossa Nova-Legende Marcos Valle.
Der Name und die Idee JAZZ IS DEAD entsprang einer Konzertreihe aus dem Lodge Room in Los Angeles, die von dem Promoter Andrew Lojero konzipiert und organisiert wurde. Im Grunde handelte es sich dabei um Treffen zwischen verdienten und jungen Künstlern, was sich nun auf dem Label fortsetzt. Diese Veröffentlichungen werden von Ali Shaheed Muhammad (New Yorker DJ, Produzent und Gründer der HipHop-Formation A Tribe Called Quest) und dem Produzenten, Komponisten und Arrangeur Adrian Younge betreut. Aufgenommen wird immer rein analog in dem Ton-Studio von Younge.
Die Ausgangslage und musikalische Ausrichtung der neuen Tribut-Reihe bezeichnet Ali Shaheed Muhammad gerne als "futuristisches Kopfnicken Richtung Vergangenheit". Es handelt sich also um Bewahrung und Belebung von Kulturgut. Die Einbeziehung von berühmten Musikern läuft dabei völlig unterschiedlich ab. So war Roy Ayers nur Gast auf dem ihm gewidmeten "Jazz Is Dead 002"-Werk, Marcos Valle wirkt dagegen auf "Jazz Is Dead 003" bei fast allen Tracks als Sänger mit und spielt Piano.
Marcos Valle gehört neben Sergio Mendes (in dessen Band The Brazil `65 er über ein halbes Jahr Mitglied war), Antonio Carlos Jobim, Gilberto Gil, Caetano Veloso und João Gilberto in Brasilien zu den musikalischen Nationalheiligtümern. Schon mit sechs Jahren lernte der 1943 in Rio de Janeiro geborene Künstler Klavier spielen, mit zwanzig hatte er seinen ersten Hit im Zuge der zweiten Bossa Nova-Welle und als er 23 war, erschien seine erfolgreichste Komposition "Summer Samba", die 1968 in den U.S.A. bis auf Platz 2 der Charts kletterte und von der es über 180 Cover-Versionen gibt: Ende der 1960er Jahre erweiterte Valle seinen Sound um psychedelische Elemente, Jazz, Pop, Funk und Soul. Neben Auftragsarbeiten für Soundtracks und Telenovela-Jingles hatte der Brasilianer bis 1974 noch Zeit erübrigt, sechs weitere Psychedelic-Pop und -Soul-Werke aufzunehmen. So wie das selbst betitelte, betont ausgeruht-melodische Album mit dem "Bett"-Cover aus dem Jahr 1970: Bis 1980 lebte er dann in den U.S.A. und beschränkte sich auf das Produzieren von z.B. Sarah Vaughan und Airto Moreira. Die nebenbei gesammelten Erfahrungen mit Soul, Funk und Disco beeinflussten seine nächsten drei Alben, die aber keine großen Erfolge mehr waren. Die 1990er Jahre brachten dann mit dem aufkommenden Brazilectro und der Renaissance des Easy Listening die Bossa Nova wieder ins Rampenlicht und Bewusstsein der jungen Leute. Seitdem ist Marcos regelmäßig auf Tour und konnte 2013 sein 50jähriges Bühnenjubiläum feiern.
Marcos Valle traf das erste Mal Anfang 2019 in Rio de Janeiro wegen der Organisation eines JAZZ IS DEAD-Konzertes auf Younge & Muhammad. Schon im Mai nahmen die Musiker dann per E-Mail Kontakt für die Produktion des vorliegenden Albums in Los Angeles auf. Valle war so angetan, dass er die Demos innerhalb von kurzer Zeit mit seinem Gesang bereicherte. Auf dem fertigen Werk sind jetzt acht Stücke enthalten, sieben davon mit Gesang.
"Queira Bem" lebt vom zurückhaltend-engagierten Ensemblespiel, dem lässig groovenden Takt und dem in Lautmalerei vertieften, erzählenden Gesang. Der Song vereint kreative Spielfreude aus dem Jazz mit ausgeglichener Folklore, die die Bossa Nova beisteuert.
Das swingende "Isso É Que Eu Sei" wird hauptsächlich von einem knurrend-kräftigen Bass und einem stabil agierenden Schlagzeug gestützt. Ein E-Piano begleitet den federnden Sound vorsichtig und durch eine Funk-Gitarre wird das vielschichtige Chanson partiell aufgewühlt. Die ganze Situation flankieren und umwehen dann noch liebliche sphärische Chöre. Marcos Valle singt dazu wie ein eleganter Verführer - sanft, aber zielgerichtet.
"Oi" umgibt eine sinnliche Aura, die durch das verschleppte Tempo und die verschachtelten Instrumenten-Beiträge noch intensiviert wird. Das klingt dann wie der Prototyp einer entspannten Cocktail-Bar-Untermalung, ist aber so schön, individuell und zärtlich, dass sich jede Zuordnung zu Klischees von vornherein verbietet.
Bei "Viajando Por Aí" erfolgt eine Verdichtung des Sounds. Marcos Frau Patricia Alvi zeigt sich als effektive, auffallende Duett-Partnerin und die Musiker brillieren dazu solistisch, achten dabei aber auf einen kompakten Gruppen-Sound. Die Nummer vermittelt kontrollierten Schwung, der sowohl Lebensfreude wie auch Coolness ausdrückt.
"Gotta Love Again" kombiniert danach gesungene Worte mit Fantasie-Lauten. Die Begleitmusiker zeigen sich ebenso einfallsreich und lassen den Song sowohl gefühlvoll fließen wie auch spritzig aufkochen.
Im Stück "Não Saia Da Praça" scheint der Gesang zunächst nicht mit den munteren Instrumenten synchron zu laufen. Dieses Stilmittel ist aber wohl gewollt, zumindest vermittelt es eine gewisse Extravaganz und Eigenständigkeit, die sich im Verlauf zu Gunsten eines flüssigen, voluminösen Ablaufs auflöst und den Track in ein flottes, geschmeidiges Umfeld überführt.
"Our Train" ist der einzige Titel ohne Gesang. Der Rhythm & Blues-Samba wird mit Hilfe von Synthesizer- und Gitarren-Soli abwechslungsreich dargeboten. Aber dennoch vermisst man Marcos Stimme, die bei den restlichen Titeln jeweils das Sahnehäubchen auf der Glanzleistung der Musiker darstellte.
Ein diskret angeschlagenes E-Piano sorgt bei "A Gente Volta Amanhã" für eine erwartungsvolle Stimmung. Valle nimmt sich dieser anspruchsvollen Aufgabe an, singt dazu konzentriert und nachdenklich, bevor aufdringliche, futuristisch klingende Synthesizer die nüchterne Atmosphäre zerreißen.
"Jazz Is Dead 003" beinhaltet Musik, die aus dem Gedankengut der Vergangenheit gespeist, aber so aufbereitet wird, dass sie im Hier und Jetzt ihren Platz findet. Sie hört sich anregend wie auch aufregend an und wird sowohl kompetent wie auch phantasievoll umgesetzt.
Dieser Bossa Nova-Jazz ist zwar intellektuell geprägt, aber durchgängig angenehm konsumierbar. Es macht einfach Spaß, dem Einfallsreichtum der Musiker zu lauschen. Dazu passt die makellose Produktion, die die Töne klar und transparent im Raum schweben lässt. Die richtungsweisende Ästhetik von "Jazz Is Dead 003" befreit den Jazz von unnötiger Kopflastigkeit und befördert ihn in einen Bereich der Musik, wo Spaß, Sensibilität und instrumentale Raffinesse eine entscheidende Rolle spielen.
Jazz Is Dead ist ein vielversprechendes Label, das schon die nächste Veröffentlichung plant. Dann geht es um die Präsentation des brasilianischen Trios Azymuth, für das Marcos Valle mit seinem Instrumental-Titel "Azimuth" vom 1969er-Album "Mustang Cor De Sangue" Pate gestanden hat.