Ein überzeugendes Plädoyer für die Neue Musik der 1960er Jahre
Ende 1968 veröffentlichte die Deutsche Grammophon einen Schuber mit sechs LPs unter dem Titel Avantgarde: ein gewagtes Unterfangen, allerneueste Avantgardemusik in einem solchen Umfang auf den Markt zu bringen! Es war die Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, die Veröffentlichung kam genau im richtigen Moment. Die Repertoirepolitik der Deutsche Grammophon richtete sich damals noch nicht vorwiegend nach Verkaufszahlen, sie fühlte sich darüber hinaus einem Bildungsauftrag verpflichtet, der sich am deutlichsten wohl in der Archiv-Produktion mit der systematischen und wissenschaftlich fundierten Erforschung alter Musik niederschlug. Neue Musik war schon ab Mitte der 1950er Jahre präsent in der Reihe Musica nova – zuletzt betreute die DG um die Jahrtausendwende die Reihe 20/21, die aber bereits großenteils aus dem eigenen Backkatalog schöpfte. Die anderen Majorlabels hatten keine vergleichbar umfassenden Anthologien im Angebot. Heute ist die Neue Musik aus den Produktionsplänen der Majors fast vollständig verschwunden, sie wird von kleineren, auf Neue Musik spezialisierten Labels gepflegt.
Die erste Avantgarde-Box war ein großer Erfolg, weshalb die DG beschloss, jährlich weitere 6-LP-Schuber auf den Markt zu bringen. Bei vier Schubern blieb es dann, Vol. IV erschien 1971.
Nun hat die DG alle vier Schuber zu einer CD-Box zusammengefasst und erstmals in dieser Form wiederveröffentlicht – freilich nicht ganz vollständig, denn drei LPs enthielten ausschließlich Werke von Karlheinz Stockhausen: Gruppen und Carré in Vol. I, Telemusik und Mixtur in Vol. II sowie Stimmung in Vol. III. Stockhausen hatte große Teile seines Oeuvres bis 1990 bei der DG veröffentlicht, gründete aber 1991 sein eigenes Label und erwarb die Rechte seiner Aufnahmen durch Rückkauf. Weil die Stockhausen-Erben die Rechte nun nicht freigaben, fehlen diese drei CDs in der vorliegenden Box. Eigentlich sollte das Projekt schon vor Jahren erscheinen, doch jetzt – endlich – hat die DG entschieden, die Edition in der leicht gekürzten Fassung herauszugeben, zumal die fünf fraglichen Werke bzw. Einspielungen auf diversen Digitalplattformen zugänglich sind. Der Deutschen Grammophon gebührt für diese Veröffentlichung allergrößter Dank!
Die 21 CDs entsprechen in der originalen Zusammenstellung den 21 LPs. Die Papphüllen sind mit den originalen Cover der LPs bedruckt, die Texte der Plattenrücken hingegen wurden, der Lesbarkeit halber, englisch/deutsch in das 184seitige Booklet übernommen. Dieses enthält zusätzlich detaillierte Tracklists sowie einen – leider etwas leichtgewichtigen – Essay von Paul Griffiths. Die Aufnahmen wurden, soweit ich das beurteilen kann, sorgfältig remastert. Die Tracksetzung erfolgte in vielen Fällen nach der Partitur, gelegentlich wurden eigenständige musikalische Abschnitte gekennzeichnet (das String Quartet von Earle Brown ist in einem Satz durchkomponiert, hier kann ich die Unterteilung nicht nachvollziehen).
Viele der Produktionen wurden mit den damals renommiertesten Interpreten Neuer Musik eingespielt, unter ihnen Gerd Zacher, Siegfried Palm und Aloys Kontarsky. Zudem wurden die Aufnahmen sehr sorgfältig nach den Audiostandards der DG realisiert, weswegen nicht wenige der Einspielungen der Box bis heute Referenzstatus genießen; die Authentizität der Interpretationen verdankt sich ihrer Nähe zu den Komponisten und zum Entstehungsprozess der Werke.
Alles in allem enthält die Edition 60 Werke von 34 Komponisten (der Gedanke, Komponistinnen mit einzubeziehen, wäre damals als völlig abwegig erschienen). Die Werke bilden ein ganzes Jahrzehnt, die 1960er Jahre, ab. Stockhausens Gruppen und Schnebels für stimmen (…missa est) wurden bereits ab Mitte der 1950er Jahre konzipiert, in Teilen aber erst Ende der 1960er Jahre ausgearbeitet, Leo Küppers drei elektronische Stücke sind die jüngsten Werke. Einige Komponisten und Interpreten, wie Stockhausen, Ligeti oder Kagel bzw. die Schola Cantorum Stuttgart oder Heinz Holliger, sind mehrfach vertreten, das vertraglich an die DG gebundene LaSalle-Quartett allein mit sechs Streichquartetten. Die inhaltliche Ausrichtung des Repertoires ist weit gefasst, berücksichtigt wurde hier keineswegs nur das, was bei den Darmstädter Ferienkursen oder in Donaueschingen gespielt wurde. Oberstes Prinzip ist die musikalische Qualität, man findet hier weder langweilige noch richtig schwache, pseudo-moderne Stücke, jedes einzelne Werk ist hörenswert. Die Konzeption der ursprünglichen LP-Reihe trägt überdeutlich die Handschrift von Heinz-Klaus Metzger, der auch einige Werkeinführungen beisteuerte. Metzger war, verkürzt gesagt, als Adorno-Schüler der bedeutendste Theoretiker der Nachkriegsmusik, ihn darf man wohl als Spiritus Rector des Projekts bezeichnen.
Etliche LPs der Reihe habe ich in meiner Jugend kennengelernt, sie haben mich damals nicht nur höchst beeindruckt, sondern bildeten eine Art Referenz. Frische und Qualität der Musik sind – das Wiederhören nach Jahrzehnten beweist es eindrucksvoll – in keiner Weise verblasst; meine Befürchtung, dass vieles heute arg verstaubt wirkt und Patina angesetzt hat, bestätigte sich nicht. Doch selbst Stücke von Komponisten mit nur temporärem Bekanntheitsgrad, die selbst im Netz kaum Spuren hinterlassen haben, wie etwa Leo Küppers (CD 21), bieten immer etwas, was aufhorchen lässt und überrascht.
Der Großteil der Werke ist eher kleinbesetzt, vom Solo (Orgel, Posaune) über Duos, Trios, Streichquartette, Ensemble- und Chorwerke bis hin zum Kammerorchester. Die große Orchesterbesetzung ist nur zwei, drei Mal vertreten, in den (hier, wie gesagt, nicht enthaltenen) Stockhausen-Klassikern Gruppen und Carré und in zwei Werken von Roman Haubenstock-Ramati und Vinko Globokar.
Zwei CDs werden komplett vom LaSalle-Quartett bestritten, es bildete seinerzeit mit der Ausrichtung auf Neue Musik den Gegenpol zum konservativen Amadeus-Quartett, dem „Haus-Quartett“ der DG. Das Streichquartett von Lutoslawksi und Ligetis zweites Quartett sind längst Klassiker, die heute auch zahlreiche nichtspezialisierte Quartette im Repertoire führen. Earle Browns Streichquartett ist ein klanglich reizvolles Stück, das von Browns Erfahrungen mit offener Form und grafischer Notation zehrt; es ist präzise ausnotiert, lässt den Spielern aber Gestaltungsfreiräume. Eine Entdeckung ist auch das Prelude für Streichquartett des Japaners Toshiro Mayuzumi. Mittels erweiterter Spieltechniken für Streicher gelingt es ihm, eine Musik zu erschaffen, die ihre Kraft und Faszination aus der Synthese westlicher Kompositionstechniken und Materialentfaltung zieht und die gleichzeitig die – für einen damals jungen japanischen Komponisten neue und überraschende – Erfahrung der eigenen Kultur mit einbringt, etwa in der formalen Ausgestaltung des Werks oder in den lang ausgehaltenen sul ponticello-Klängen, die den silbrigen Klang der Shō beschwören. Mayuzumi schreibt, unter Verzicht auf billige Exotismen und kulturelle Anbiederung eine Musik, die weder rein westlich noch rein östlich ist, sondern etwas eigenständiges Neues – „beyond categories“.
Drei CDs präsentieren Neue Musik für Chor bzw. Vokalensemble. Highlight der CD 3 mit dem NDR-Chor unter Helmut Franz ist Ligetis Chorstück Lux aeterna, das auch dem Cineasten durch Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey bekannt ist. Eine weitere CD des NDR-Chors enthält zwei großformatige Werke: Sylvano Bussottis luxuriös funkelnde Cinque frammenti all’Italia sowie den etwas sperrigen Versuch über Sprache von Nicolaus A. Huber, dessen physische Attacke nur schwer zu ertragen ist (offenbar ein Relikt der Zeit). Von den zwei in der Box enthaltenen Werken Heinz Holligers bezieht das Oboenkonzert Siebengesang Chorstimmen mit ein, es gehört, zusammen mit dem Bühnenwerk Der magische Tänzer, zu den beeindruckendsten Werken der Sammlung. Mauricio Kagel ist mit fünf Werken aus den Jahren 1964 bis 1968 hier vertreten, darunter dem Trio Match, eines seiner bekanntesten Werke, dann die Musik für Renaissance-Instrumente und das großformatige Klangkompendium Der Schall. Der Witz der großartigen Chorkomposition Hallelujah erschließt sich vollständig erst mittels der theatralen Komponente, die in einem zeitgenössischen Schwarzweißfilm (der hier natürlich nicht enthalten ist) überliefert ist. Die unerschrockene Schola Cantorum Stuttgart unter ihrem Leiter Clytus Gottwald war seinerzeit das einzige Ensemble, das sich an solcherart herausfordernde Partituren wagte. Der Komponist und Theologe Dieter Schnebel arbeitete unter dem Eindruck der Konzerte der Schola eigene frühe utopische Kompositionskonzepte aus: Die drei Messesätze für stimmen (… missa est) entfalten in ihrem rabiaten, mit anarchischem Witz gepaarten Furor eine fantastische Klangwelt, die mit der biederen Kirchenmusik der 1950er Jahre nichts mehr gemein hat, stattdessen durch die Dekonstruktion der zugrundeliegenden Texte die Musik auf lustvolle Weise entäußert. Wie verstörend dies Ende der 1960er Jahre gewirkt haben mag, kann man sich lebhaft vorstellen, heute indes macht das Zuhören einfach nur Spaß - mein absoluter Favorit dieser CD-Box! Auch Schnebels anderes Stück, die Glossolalie mit dem Ensemble Musica Negativa gehört in dieselbe Kategorie. Die Sprecherstimmen – 1969! – klingen reichlich altmodisch, aber nicht weniger charakteristisch.
Ein Komponist durfte in dieser Sammlung nicht fehlen: Bernd Alois Zimmermann. Seine epochale Oper Die Soldaten war erst kurz zuvor, im Frühjahr 1968, auf Schallplatte veröffentlicht worden – gerade einmal zwei Jahre vor seinem Tod wurde Zimmermann damit einem breiterem Publikum bekannt. Die zwei Kammermusikwerke auf CD 7, das szenische Klaviertrio Présence sowie das Duo Intercomunicazione, werden von damals führenden Interpreten Neuer Musik eingespielt: Aloys Kontarsky am Klavier, Siegfried Palm am Violoncello und Saschko Gawriloff an der Geige. Beide Aufnahmen wurden, ihrer Bedeutung wegen, mehrfach wiederveröffentlicht. Auf einige Werke und Komponisten möchte ich noch hinweisen: John Cage, der Altmeister der US-amerikanischen neuen Musik, ist mit dem Atlas eclipticalis, simultan verschränkt mit Cages Winter Music („electronically amplified after Cartridge Music“), vertreten; die einzelnen Stimmen, in diesem Fall 21, sind alle aus Sternatlanten abgeleitet. Es gibt keine Partitur, mithin keine Koordination. Das klangliche Resultat ist abhängig von der Bereitschaft der Musiker, aufeinander zu hören und erfordert vom Hörer eine punktuelle, quasi meditative Wahrnehmung, von Moment zu Moment (beim mehrmaligen Hören erkennt man dann doch Zusammenhänge und Verläufe). Neu zu entdecken ist die Musik des in Berlin aufgewachsenen und früh in die USA emigrierten Komponisten Lukas Foss, hier das spielerische Paradigm für fünf Instrumentalisten. Der italienische Komponist Franco Evangelisti ist zwei Mal vertreten, zum einen mit seinem Bühnenwerk Die Schachtel und dann mit seiner Improvisationsgruppe Nuova Consonanza, die sich ausschließlich aus Komponisten zusammensetzte. Ennio Morricone, der ein Jahr zuvor die Filmmusik zu Sergio Leones Italowestern Spiel mir das Lied vom Tod geschrieben hatte, war zwischen etwa 1969 und 1975 als Trompeter Mitglied des Ensembles! Evangelisti hatte aus unterschiedlichen Erwägungen nach der Komposition der Schachtel das Komponieren eingestellt und sah die Zukunft der Musik in nicht-notierter, improvisierter Musik. Den fünf Stücken der Nuova Consonanza hört man die intensive und durchdachte Vorbereitung an, die Ausarbeitungen klingen weit weniger improvisatorisch als die anderer zeitgenössischer Improvisationsgruppen. Ein anderes eher gegensätzliches Modell, sich vom herkömmlichen Musikbetrieb zu lösen, verfolgte der englische Komponist Cornelius Cardew, der, bevor er sich dem Agitprop zuwandte, das Scratch Orchestra gründete, das ganz im Gegensatz zur Nuova Consonanza aus Laien bestand; entsprechend einfach strukturiert sind die zwei Auszüge von Aufführungen auf CD 17 (The Great Learning).
Unbedingt hörenswert sind die fünf CDs mit elektronischer Musik. In den letzten Jahren gerät die elektronische Musik der „heroischen Zeit der Neuen Musik“, also der 1950er und 1960er Jahre, aus dem Blickfeld. In einem Grußwort zur Rettung des Elektronischen Studios des WDR in Köln meinte die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker kürzlich sinngemäß, im Studio hätten Stockhausen und andere begonnen, was später durch Pink Floyd, Kraftwerk und Can fortgeführt worden sein soll. Auch als Politikerin möchte man gerne seine Hipness unter Beweis stellen, doch sollte man keine Geschichtsklitterung betreiben: Holger Czukay von Can arbeitete zwar inoffiziell (nämlich nachts nach Dienstschluss) kurzzeitig im WDR-Studio, aber Pink Floyd hatten mit dem Studio überhaupt nichts zu tun. So sehr ich die drei genannten Bands auch schätze, Tatsache ist, dass ihre Musik keine Fortsetzung der Musik Stockhausens ist, sie ist auf einem anderen Planeten angesiedelt (auch wenn es klangliche Berührungspunkte gibt). Die Klangeffekte der Popmusik sind mit den komplexen Gebilden Stockhausens (und denen von Iannis Xenakis, Pierre Henry und vielen anderen) nicht vergleichbar, und das soll kein Werturteil sein. Aber dass Stockhausens Gesang der Jünglinge, die Kontakte, Telemusik und Hymnen etc. die Hauptwerke der genuin elektronischen Musik sind, lässt sich nun mal schwerlich bestreiten.
CD 10 enthält u.a. zwei Stücke eines Pioniers der elektronischen Musik, Gottfried Michael Koenig, realisiert im Utrechter Studio. CD 14 präsentiert Stücke von Lejaren Hiller und Elliott Schwartz aus amerikanischen Studios. Auf CD 15 finden sich zwei Realisationen des Mailänder Studio di Fonologia: die Cybernetics III von Roland Kayn und der Contrappunto dialettico alla mente von Luigi Nono, ein politisch engagiertes Werk, das auf ein Madrigal des Renaissancekomponisten Adriano Banchieri Bezug nimmt, die Ermordung von Malcolm X thematisiert und der Nationalen Befreiungsfront Venezuela gewidmet ist – ein ungemein ausdrucksstarkes Stück. Die Schluss-CD der Box macht mit drei Stücken von Leo Küppers bekannt. Hier wie auch in einigen anderen Fällen ist die Kürze der Einführungstexte ein Problem, denn man erfährt wenig Hilfreiches zu Komponist und Werk. Leo Küppers scheint mit automatisierten Abläufen gearbeitet zu haben, aber ob diese mit Computern realisiert wurden bzw. inwieweit diese Werke als frühe Computermusik gelten mögen, bleibt im Dunkeln. Ein Spezialfall schließlich ist das Tonbandstück Presque rien von Luc Ferrari: Es ist kaum mehr, eben presque rien, als ein klangliches Abbild einer ländlichen Idylle, durchzogen von Zeugnissen der Technisierung, gewissermaßen eine Musique concrète pure.
Die CD-Box Avantgarde ist ein überzeugendes Plädoyer, sich mit der Musik der Nachkriegsavantgarde erneut (oder auch erstmals) zu beschäftigen, sie bietet ein sorgfältig kuratiertes Panorama der Musik der 1960er Jahre für Musikliebhaber, die bereit sind, sich dem Abenteuer des lustvollen, überraschenden und herausfordernden Hörens zu stellen. Sie werden reich belohnt!