Wozu das Ganze?
Ich hatte mir bereits vor einiger Zeit die Rekonstruktion der E-Dur-Symphonie gegönnt, die Gabriel Chmura nach Vorgaben von Brian Newbould umsetzte. Daher war ich recht gespannt auf das, was der Dirigent Mario Venzago aus einer "weiteren" Rekonstruktion des vorliegenden musikalischen Materials als Vortrag anbot. Das Fazit will ich vorwegnehmen: Die Einspielung von Chmura und dem RSO Berlin halte ich für erheblich wertvoller als das, was hier als Neueinspielung vorliegt. Natürlich bin ich nach 40 Jahren eigener Verehrung des Komponisten Schubert noch lange kein Musikwissenschaftler, für den Hörer Schubertscher Musik muss sich jedoch immer die Frage stellen, wo bestimmte Musik steht (oder stehen soll) und wie sie in einem zeitlichen Kontext zu anderen Werken zu finden ist. Ich habe immer noch keine Antwort auf die Frage gefunden, wann Schuberts Orchestermusik das Etikett "romantisch" bekommen darf. Mit der Ouvertüre "Die Zauberharfe"? Oder zur Oper "Fierabras"? Und hier habe ich auch keine Antwort gefunden, im Gegenteil, eher Ratlosigkeit. Die Neueinspielung macht aus dem Kopfsatz ein Stück, das mir weniger in das Jahr 1822 als in eine Zeit nach 1825... wenn nicht sogar in die Zeit vor Schuberts Tod gehört. Der Chmura-Satz wirkt dagegen gediegen, er passt für mich hervorragend in ein Bindeglied zwischen der Kleinen C-Dur-Sinfonie und der Unvollendeten. Man kann durchaus erkennen, welche Fortschritte Schubert als Sinfoniker macht (oder machen möchte). Es sind Feinheiten, Längen, und ganz bestimmt nicht die Übergänge, die Venzago sucht (?) und zulässt. Er setzt die E-Dur-Sinfonie kaum in einen Kontext, sondern bastelt sie. Man könnte beide Sätze nicht verschiedener wichten. Völlig rätselhaft ist mir für den 2. Satz bei Venzago die Wahl des Andante D 936. Ich kenne diesen Satz aus einer anderen "Rekonstruktion", die Pierre Bartholomee zu einer 10. Sinfonie zusammenführte - und diesen Satz dort... Das ist Schubert in Todesahnung, in Verklärung des Irdischen, als Ahnung auf Bruckner oder anderes, jedenfalls eine Musik, die ich jedem Schubertfreund nur empfehlen kann, er wird tief berührt sein. Soweit ich weiß, ist er auch nahezu vollständig von Schubert auskomponiert worden. Aber das führt woanders hin. Dieses D 936 folgt also einem Stück aus dem Jahr 1822. D 729 neben D 936. Fragwürdig. Befremdlich. Fast verstörend. Es passt nicht. Der Stilbruch ist gewaltig, und das, was Bartholomee aus den Notensätzen erwachsen ließ, bleibt bei Venzago im Unscharfen oder Unbekannten, es tauchen keine Ahnungen, keine dunklen Gedanken oder Träume auf. Bartholomee liefert sie dagegen. Ich kann von dem Kauf dieser Neueinspielung nur abraten. Die Chmura-Einspielung führt MIT der Einspielung der Bartholomee-D 936-Fragmente zu einem deutlich höheren Repertoirewert. Das entbehrt auch nicht künstlerischer Glaubwürdigkeit - soweit man sich Werkfragmenten und Rekonstruktionen überhaupt annähern möchte.
Es ist übrigens kaum möglich, die künstlerische Qualität einer Ersteinspielung zu bewerten. Man mag sich das zutrauen, wenn es verschiedene Klangkörper zu einem Werk kennt. Was hier aber offen sein dürfte.
Der Klang lässt natürlich nichts zu wünschen übrig.