Pop(-Rock)-Highlight des Jahres
[ KURZGESAGT ] Eines der am sehnlichst erwarteten Pop-Alben des Jahres ist da und beweist: OR, von der Time zur „Entertainer of the Year 2021“ gekürt, ist keine Eintagsfliege. Der bereits jetzt von sämtlichen Kritikern gefeierte sOuR-Nachfolger ist hinsichtlich Songwriting, Gesangsdarbietung und Produktion eine Weiterentwicklung, ohne das Rad neu zu erfinden. Damit gewinnt das aktuelle Projekt nur wenig neue Fans, erweitert ORs Katalog aber zur Freude der bereits vorhandenen Zuhörerschaft um perspektivisch langlebigere Werke.
[ IM DETAIL ] Drei Grammys, zahlreiche Rekorde bei Spotify und in den Billboard-Charts, dazu eine unvergleichliche Relevanz in sozialen Medien (allen voran TikTok) — der Sensationserfolg ihres Debütalbums SOUR ließ Olivia Rodrigo (bei Veröffentlichung 18 Jahre jung und bis dato nur einem Nischenpublikum des Streamingangebots von Disney+ bekannt) quasi aus dem Stand heraus zum Gesicht ihrer Generation werden.
SOUR enthielt neben massiven Hitsingles weitestgehend unaufgeregte Musik, ist in erster Linie aber auch als popkulturelles Zeitzeugnis anzusehen: Rodrigos Studiodebüt gab den Wirren der Pubertät eine Stimme, die die durch Corona isolierten Jugendlichen selbst nicht hatten, und gefiel durch „good 4 u“ auch den mit Pop-Punk sozialisierten Millennials, die sich in der Pandemie ihrer eigenen nostalgischen Momente besannen. Der Erfolg von SOUR warf jedoch unweigerlich die Frage auf, was da noch kommen solle.
In Interviews gab Rodrigo an, zunächst entsprechend gelähmt zu sein, zumal die Inspiration für die meisten Titel in SOUR in Form von erstem Liebeskummer aufgebraucht war. Von ihrem musikalischen Vorbild Jack White erhielt Rodrigo schließlich den Ratschlag „deine einzige Aufgabe ist es, Musik zu schreiben, die du selbst im Radio hören möchtest“. Ein Hinweis, für den sich Rodrigo wohl mit der zweiten Single aus GUTS bedankte: „bad idea right?“ ist ein augenzwinkernder Ohrwurm mit eingängigem Riff und Gitarrensolo à la „Icky Thump“.
Die authentischen, da weiterhin meist autobiographisch geprägten Texte behandeln neben Beziehungskonflikten zumeist seelische Schieflagen: „I know my age and I act like it!“ bricht es da etwa im Opener „all-american bitch“ aus ihr heraus, und weiter „I am built like a mother and a total machine“. Der lyrisch zeitgemäße Kommentar zum Filmphänomen „Barbie“ pendelt zwischen Folk und Punk und zeigt bereits zu Beginn des Albums, dass GUTS eine stilistisch bessere Balance findet als SOUR.
Überwogen in Rodrigos Erstling vor allem Balladen in spärlicher Instrumentierung, findet sich im Nachfolger eine wohldosierte Mischung aus energetischem Pop-Rock und abwechslungsreich gestalteten Singer-Songwriter-Momenten. Dissonanzen, Tempowechsel, melodische und akkordische Wendungen — das neue Album erweitert die im Vorgänger angedeuteten Dynamiken erheblich und bietet Wiederhörwert ohne Längen oder Totalausfälle. Die ausgereifte Instrumentierung zieht sich durch nahezu alle Titel und ist sicher auch ein Produkt dessen, dass Rodrigo seit 2021 mit eigener Liveband tourt.
Die Vermarktung von Rodrigo mag vornehmlich ein weibliches Publikum unter 20 ansprechen, doch mit ihrer Musik werden zweifelsohne auch darüber liegende Generationen warm. GUTS nimmt Anleihen an den Alternative-Rock der 90er/00er und verpackt dies dank Produzent und (bis auf zwei Ausnahmen) einzigem Co-Writer Dan Nigro in modernem Klanggewand. Das gefällt im Ergebnis sicher nicht allen, hebt sich aber wohltuend von vielen aktuellen Pop-Produktionen ab. Anachronistische Puristen greifen sowieso lieber zum Original aus dem Jahrzehnt ihrer Wahl.
Insgesamt erinnert Rodrigos Entwicklung stark an Avril Lavigne, die mit ihrer rebellischen Art („sk8ter boi“) Idol einer ganzen Generation wurde, noch bevor Rodrigo überhaupt auf die Welt kam. Lavignes zweiter Langspieler „Under My Skin“ war kommerziell ungleich weniger erfolgreich als ihr Debüt, gilt mit seinem düsteren und härteren Klang aber dennoch für viele Fans als ihr bestes Album. Ähnlich verhält es sich nun mit GUTS: den Hype von SOUR wird Rodrigos neuestes Projekt nicht wiederholen können, was aber bleibt, ist wachsende musikalische Substanz. Mit gerade einmal 20 Jahren, nunmehr drei Nummer-eins-Hits in den USA (darunter die Mini-Rock-Oper und erste Single aus GUTS, „vampire“) sowie unbestreitbarem Talent ist sicher auf Jahre mit ihrer Stimme zu rechnen.