Eine gelungene Verbindung der Kunst des Lebens und der Kunst des Sterbens
„Lehr uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12) Dieser Satz aus dem Buch der Psalmen fasst das zusammen, was Michael von Brück in seinem Buch „Vom Sterben“ aus verschiedenen Sichtweisen immer wieder in den Blick nimmt, den untrennbaren Zusammenhang der Kunst des Lebens (ars vivendi) und der Kunst des Sterbens (ars moriendi). So ist dieses Buch keineswegs nur ein Buch für sterbende Menschen und deren Begleiter. Es ist ein Buch für jede und jeden, die einen Zugang zum Leben finden wollen, zu welchem das Sterben immer schon dazu gehört.
Dieses Grundthema wird in zehn Meditationen reflektiert, in welchen fundamentale menschliche und religionsphilosophische Zusammenhänge in der für Michael von Brück so typischen lebendigen und anschaulichen Weise verdeutlicht werden. Er verweist auf die Erfahrung der Verbundenheit, die auch im Sterben nicht abreißt („eine große Sinfonie der Wechselbeziehungen“ 66), auf die Notwendigkeit eines Perspektivewechsels, mit ihr einhergehend der Reduktion als eine Metapher für unsere Haltung zum Leben, die eingeübt werden kann in der Haltung des Empfangen-Könnens, des Sich-Öffnens - jetzt, in diesem Augenblick.
Die Meditationen „blicken“ auf das Ganze des Lebens. Sie sind auch hilfreiche Erläuterungen für die Praxis der Meditation. Immer wieder schärft Michael von Brück ein, dass es nicht die äußeren Umstände sind, die uns entmutigen oder anspornen, einen tiefen Weg der Akzeptanz der Vergänglichkeit zu gehen, sondern unsere Wahrnehmung und Interpretation der „Dinge“ (vgl. die zehnte Meditation über Mut und Hoffnung). Es gibt Verzweiflung, Erschütterung, Versagen und Traurigkeit – aber diese „Dinge“ müssen nicht, ja dürfen nicht das letzte Wort haben, wollen wir ein Leben voll Kraft und Freude führen. Es ist eine Frage, wie wir mit diesen Umständen umgehen, wie unser Bewusstsein auf diese reagiert und sie integriert. Meditation ist eine Schulung des Bewusstseins im Umgang mit den „Umständen“ des Lebens. Sie ist auch eine Vorbereitung auf das Sterben.
In den zehn Meditationen bündelt Michael von Brück ferner eigene Erfahrungen in der Begleitung Sterbender und Meditierender und verbindet sie mit dem reichen Erfahrungsschatz der Religionen und dem Wissen aus Psychologie, Psychosomatik, Medizin, Physik und Philosophie. Auch Musik und Poesie kommen nicht zu kurz. Wir „vernehmen“ Gedichte und Geschichten von Rilke, Laozi, Zhuangzi, Paul Gerhardt, Paul Fleming, Antoine des Saint-Exupéry, um nur einige zu nennen - und hier wird die Leserin/ der Leser an die herrlichen Passagen in Michael von Brücks Vorträgen erinnert, wenn er spontan ein Gedicht oder einen Liedtext zitiert und diese Texte auf unnachahmbare Weise erschließt, so dass im Zuhören staunend das Gefühl entsteht: Ja, genau, so ist es! Es ist ein bisschen wie ein Zurückfinden in die Heimat, in die Wesentlichkeit unseres Daseins.
Die Übungen - Visualisierungen, bewusste oder spontane Atem“führung“, Übungen zum Innehalten, Übungen im Sitzen oder Liegen, je nachdem, was einer/einem möglich ist - am Ende jeder einzelnen Meditation laden zu einer Verinnerlichung des im Text „Gehörten“ ein. Es sind Übungen, die Sterbenden Ruhe und Halt vermitteln können.
Dort wo Michael von Brück auf das Sterben und die Begleitung Sterbender zu sprechen kommt, vermittelt er eine ehrfürchtige Zurückhaltung gegenüber dem Geheimnis des Sterbens und des Todes. „Begleitung von Sterbenden ist zuerst und vor allem Zurückhaltung, Zuhören und Schweigen!“ (25) schreibt er in der Meditation über die Stille. Es finden sich zahlreiche hilfreiche Hinweise für Sterbebegleiter, etwa die Hinweise auf die Bedeutung von Ritualen und Symbolen oder der Hinweis darauf, dass die Art und Weise, wie wir bei einer Sterbenden/ einem Sterbenden sitzen – in einer Haltung der aufmerksamen Empfangsbereitschaft - auf den Sterbenden wirkt (vgl. 115). Immer wieder kommt er auf das Thema der ersten Meditation, auf das Thema „Stille“ zurück. Es scheint ein Thema zu sein, welches ars vivendi und ars moriendi in besonderer Weise verzahnt. Aus der Stille heraus kann Leben, kann vor allem auch das Sprechen gelingen. Sterben kann als ein Gehen in die Stille, in ein nicht beschreibbares Geheimis, verstanden werden. Und auch am Sterbebett ist vor allem Tun „heilige Stille“ angesagt (vgl. 128.). Die detaillierte Beschreibung des Sterbeprozesses aus spiritueller Sicht – wesentlich orientiert am sog. Tibetischen Totenbuch - unterstreicht einerseits die Geheimnishaftigkeit des Sterbens und des Todes, andererseits führt sie auch zum Ausgangsthema zurück: „Wie möchte ich leben?“ Die Erfahrung der Endlichkeit kann dazu anspornen, das Leben mutig und bewusst zu gestalten. MvBs Buch ist ein herrlicher Ansporn zu dieser Gestaltung.
Heretsried, 29.11.2020
Michael Pindl