Warum nicht gleich die Live-Einspielung
Nichts ist obsoleter als Neueinspielungen des Wohltemperierten Klaviers. Alles, was es musikalisch zu sagen gibt, ist bereits gesagt worden. Von Goulds statisch klapperndem Hackbrett-Angriff über Guldas Hollerithkarten-Gestanze bis zum narkotisierenden Cembalo-Spinnrad-Gezirpe Koopmans gibt es mehr Facetten und Aufführungs-Varianten als Bachs WTK Noten enthält. Koroliovs seidig-elegante Rasanz, Lewandowskas Drahtkommoden-Geschepper oder das pianistische panta rhei Sviatoslav Richters, bedeuten für das Bach verliebte Edelohr soviel Auswahl-Möglichkeiten, dass vor lauter Nägelkauen die Fingerkuppen bluten. Und jetzt drängt der Hohepriester gepflegter Bach-Langeweile schon mit der zweiten Einspielung des WTK an die Musikalien-Börse. Und man darf sich fragen, warum ECM nicht gleich diese Live-Einspielung veröffentlicht hat und die breiig-topfig klingende Studioaufnahme nicht im Giftschrank des Schallarchivs unter Quarantäne gestellt wurde. Jarrett’s Herangehensweise unterscheidet sich nicht wesentlich von seiner Studioaufnahme. Aber alles, was so verstörend das interpretatorische Vorhaben Jarrett’s im Studio konterkarierte, ist in diesem Livemitschnitt verschwunden: Das unruhige metrische Flackern, diese unwillkürlich anmutenden, durch keinerlei Phrasierungs-Absichten erklärbaren Temposchwankungen, das selbst bei mäßigstem Metrum häufig gehetzt wirkende Klangbild und der misslungene Versuch, locker bis zur Verkrampfung, einfach nur musikalische Linien und Stimmen wiederzugeben. Stattdessen hört man in der Live-Aufnahme nervöse Spannung. Die Musik hat deutlich mehr Zug nach vorne, das Weichzeichner-Klangbild ist in diesem Mitschnitt nivelliert. Alles klingt stabiler, konsistenter und - unter dem Druck der Echtzeit-Situation - konturierter. Jarrett’s romantisierende Marotte der Studioaufnahme, die Enden der Musik in zuckrige Ritardandi zu verreiben, ist auf ein interpretatorisch nachvollziehbares Maß reduziert worden. Dass der Kleinhänder, mit dem großen musikalischen Spektrum, in der D-Dur Fuge einmal mächtig daneben haut und auch im im gleichnamigen Präludium phasenweise den Fuß nicht rechtzeitig vom Pedal kriegt, sei ihm verziehen. Braucht man diesen Bach? Wer an den Unsinn einer sogenannten Referenzaufnahme glaubt, sollte die Finger weglassen, vom Jarrettschen Bachanal. Die Sehnsucht nach übler Nachrede wird stärker sein als das Interesse an der Musik.