"Es ist zu schwer" - Die Meisterschaft
Lisa della Casa wurde zu Beginn eines Fernsehporträts gefragt, was sie einem jungen Menschen raten würde, der Sänger werden will. „Lassen Sie es bleiben. Es ist zu schwer.“ Damit ist alles gesagt. Die Strauss- und Mozart-Sängerin wußte es zu genau. Alle Musik ist schwer. Am schwersten ist der Mozart. Und am allerschwersten sind seine Konzert-Arien. Das sind keine Rezitative und davon klar abgegrenzte Arien, wie wir es von seinen Opern her kennen. Das sind von der Form her stark variierende Werke. Es gibt auch blanke Arien ohne ein Rezitativ. Am inhaltsreichsten ist „Ah, lo previdi“, das sich in fast 15 Minuten grob in Rezitativ – Arie – Rezitativ – Kavatine einteilen läßt. Die Übergänge sind meist nicht so scharf wie in der Oper, eher fließend. Der Inhalt der Konzertarien variiert stark und reicht von Kammerzofen-Tändelei bis zu Todes- oder todesnahen Szenen. Etliche Arien, für Sopran geschrieben, sind aber reine Männerszenen, meist angesichts des Todes.
Mozart schrieb viele seiner Konzertarien für Johanna Duschek in Prag bzw. Aloysia Weber in Mannheim, beide müssen über heute nicht vorstellbare stimmliche Fähigkeiten verfügt haben. Zu „Ah, lo previdi!“ schrieb er an Aloysia Weber: „Vor allem aber beachten Sie die Vortragszeichen - überlegen Sie sich den Sinn und Nachdruck der Worte – versetzen Sie sich allen Ernstes in die Verfassung und Lage der Andromeda – und stellen Sie sich vor, Sie seien wirklich diese Person.“ (Das Zitat habe ich von der Decca, s. weiter unten!). Solche Weisung vom Komponisten wäre für mich keine reine Aufmunterung.
Meine ersten Begegnungen mit den Konzertarien hatte ich in den Siebzigern mit den Übertragungen der Mozart-Matineen bei den Salzburger Festspielen. Vor der Pause gab es eine oder eher zwei Konzertarien. Zu oft mühten sich junge Sänger mit wenig erfreulichem Ergebnis. Dass diese Werke fast nicht aufführbar sind, war bereits damals mein Eindruck.
Auf Tonträger blieb dieses Universum eher vernachlässigt. Einen sehr ernsthaften Versuch gab es vor vierzig Jahren von der Decca, noch analog und auf LP. Auf 5 LPs wurden 37 Konzertarien geboten. Den LPs waren die Damen Te Kanawa, Gruberova, Berganza, Laki und Höbarth zugeordnet. Die beiden letzteren waren damals öfter gefragt, wenn Frau Gruberova als Königin der Nacht nicht zur Verfügung stand. Begleitet wurde vom Wiener Kammerorchester, Leitung György Fischer. Enthalten war außerdem ein ganz hervorragendes Begleitheft mit umfangreichen Begleitinformationen zu allen 37 Arien. Die erste LP war echte Kiri Te Kanawa, u. a. „Bella mia fiamma“ und „Ah, lo previdi“, sehr gefühlt, zart und weich musiziert. Sie gab auch „Nehmt meinen Dank, ihr holden Gönner“, eine Einspielung, überiridisch und traumhaft schön gelungen. Frau Gruberova und Frau Berganza standen nur knapp dahinter. Die Damen Laki und Höbarth kamen nicht zu solchen Ergebnissen, namentlich „Vorrei spiegarvi, oh Dio!“ - meine ganz persönliche Lieblings-Konzertarie – war, nun ja nicht so recht gelungen, um das sehr höflich zu formulieren.
Ein weiterer Versuch wurde von der EMI Mitte der Achtziger unternommen: „Mozart Arias“ mit Kathleen Battle, dem LSO und Andre Previn. Es war keine reine Konzertarienplatte. Das Hauptwerk „Exsultate“ ist eine Motette, hier ist wohl die Referenz dieses Werkes entstanden. Die enthaltenen Konzertarien waren meist gelungen, nur hat Frau Battle in der Reprise des Hauptteils von eben „Vorrei spiegarvi, oh Dio!“ den entscheidenden Spitzenton am Schluß völlig verfehlt, das klang eher nach einem Schrei. Mit Frau Battle begann eine Reihe von Mozart-Sopranen, die eher „kleine Stimmen“ hatten, was unter anderem ein stetes Dämpfen des Orchesters erfordert. So kann man meines Erachtens Mozarts Konzertarien nicht ernsthaft beikommen.
Weitere ernsthafte Versuche der Konzertarien auf Tonträger sind mir nicht bekannt. Damit zu Frau Oropesa und dem vorliegenden Album.
„Ombra Compagna“ enthält zehn Konzertarien, die Gesamtdauer sind 81,5 Minuten. Ich habe inzwischen die SACD mehrfach gehört, aber nie komplett am Stück. Ich wollte die Arien nicht konsumieren, sondern mit voller Konzentration hören. Daher habe ich nach spätestens 5 – 6 Arien eine Pause eingelegt. Des weiteren habe ich die vier Arien, die sich inhaltlich mit der LP von Kiri Te Kanawa decken, im direkten Vergleich nacheinander gehört. Die Unterschiede sind mehr als überwältigend und atemraubend, das Album ist musikalisch ein Naturereignis. Als absoluter Bewunderer von Dame Kiri seit über 40 Jahren muss ich mich dem Vorwurf aussetzen, ein treuloser Verehrer zu sein, und mich vor Frau Oropesa ganz tief anerkennend verneigen. Das ist kein lyrischer Sopran. Das ist eine gestandene volle Frauenstimme mit Volumen. Sie stürzt sich im allerbesten Sinn in die Partituren und meistert sie so gut, wie es angesichts der enormen Ansprüche möglich ist. Jede Note wird mit größtem Ausdruck und Engagement gesungen. Alle zehn Arien sind hörbar in Gedanken lange durchgekaut worden, um alles zu erfassen, was ihr Inhalt ist, und diesen angemessen umzusetzen. Sie setzt ihre Stimme deutlich als Instrument ein, was vor allem in „Vorrei spiegarvi, oh Dio!“ zu vernehmen ist. Diese Arie enthält zwei Gesangsstimmen, die zweite ist eine Solo-Oboe. Wie hier Gesangsstimme und Solo-Oboe mit einem einzigen Kopf denken und einem Herzschlag atmen und musizieren, ist allein den Kauf wert. Bei sehr genauem Hinhören lassen sich in einzelnen Spitzentönen leichte Schärfen des Gesangs ausmachen. Diese sind aber sowohl vor den Schwierigkeiten der Partituren als auch dem Gesamtergebnis mehr als verzeihlich.
Il Pomo d'Oro waren mir schon bei „In War And Peace“ von Frau DiDonato sehr positiv aufgefallen. Weiches, zartes, einlullendes Musizieren ist das ganz sicher nicht. Es wird sehr genau und akzentreich gespielt, ohne in die Überakzentuierung zu verfallen, wie sie z. B. bei Herrn Harnoncourt des öfteren stattfand.
Schließlich Antonello Manacorda: seit den Tagen des Fritz Busch, der als letzter Dirigent Mozart konsequent angemessen und atmend aufgeführt hat, neigen alle Dirigenten dazu, aus Mozart eine Spieldose zu machen, die aufgezogen wird und mit den Jahren, die diese Unsitte stattfindet, immer noch schneller ratternd runterläuft, pure Mechanik statt lebender Musik. Einzige ruhmreiche Ausnahme war Klemperer mit wahrlich einer „Cosi“! Auch die Not-Kurz-Cosi der Salzburger Festspiele 2020 war von der Ouvertüre an überhitzt, also zu schnell, zu ratternd. Herr Manacorda läßt erfühlt und erfüllt musizieren, er gestaltet die Partituren in nicht genug zu rühmender Genauigkeit und angemessenen Tempi. Das führt dazu, dass er bei allen zehn Konzertarien der langsamste aller Dirigenten aller meiner Einspielungen ist.
Die Aufnahmetechnik und die Abmischung sind dem Ereignis würdig. Die SACD bereitet bereits auf einem CD-Player sehr viel Freude, über einen SACD-Player erschließt sich die Musik natürlich besser.
Das Booklet enthält ein Vorwort von Frau Oropesa, Einführungen in alle zehn Arien (nur englisch) sowie die Gesangstexte auf italienisch und in englischer Übersetzung. Dazu gibt es mehrere Farbfotos, auch eines vor den Aufnahmesitzungen in „social distancing“, wie bei Corona leider erforderlich.
Zum Schluß bleibt nur die unbescheidene Frage an Pentatone, wann der mehr als berechtige Nachschlag kommen wird. Bitte mehr und ganz viel!