Ein Wälzer, der zum Nachdenken anregt
In seinem zweiten Roman präsentiert Daniel Speck ein fesselndes Familienepos zwischen Deutschland und Tunesien, das in den Wirrungen des zweiten Weltkrieges beginnt und bis heute voller Geheimnisse steckt.
Das Buch erzählt die Geschichte in zwei Zeitenebenen und beginnt, nach einem kurzen Prolog, mit Nina, im heutigen Berlin. Sie ist Archäologin, hat ihr Leben stets auf Sicherheit ausgerichtet und sich dabei in ihrem Büro auf der Museumsinsel verkrochen. In ihr hat sich das Nachkriegstrauma ihrer Großmutter und Mutter weiter vererbt. Eine Familie ohne Männer, denn der Großvater Moritz, das große Familientabu, galt schon vor der Geburt ihrer Mutter als verschollen und auch sonst scheint sich keine der Frauen auf einen Mann verlassen zu wollen.
Auch Ninas scheinbare Bilderbuchehe liegt in Trümmern. Da erhält sie Nachricht von einem alten Freund aus Sizilien. Es wurde ein Flugzeugwrack vor Marsala entdeckt und allen Informationen nach war ihr Großvater mit auf der Passagierliste. Ganz untypisch für sie, bricht Nina aus ihrem sicheren Leben aus und begibt sich auf die Suche nach ihm. Dort trifft sie Joelle, eine außergewöhnliche Frau, die sich bei ihr als eine Tochter von Moritz vorstellt. Sie erzählt Nina von Moritz und seinem zweiten, für sie bisher geheimen Leben.
Hier beginnt die zweite Zeitebene. Moritz Reincke, Kameramann der Propagandakompanie der deutschen Wehrmacht erreicht Tunis 1942. In der Mittelmeerstadt leben Juden, Muslime und Christen friedlich zusammen. Im französischen Kolonialstil geprägten Grand Hotel Majestic begegnet Moritz den italienisch-jüdischen Geschwistern, Yasmina und Victor. Als Victor von der SS gefangen genommen wird, tritt Moritz aus seiner gewohnten Rolle des Beobachters aus und verhilft Victor zur Flucht.
Nicht lange danach müssen sich die Deutschen aus Afrika zurückziehen, Moritz wird selbst zum Gejagten und findet schwer verletzt Unterschlupf in Piccola Sicilia, bei Yasmina und ihrer Familie. Während sie ihn gesund pflegen, entwickelt er Gefühle für Yasmina. Als die ganze Welt in Schutt und Asche liegt, erkennt Moritz, dass er nicht mehr zurück in sein altes deutsches Leben kann. Und entscheidet sich für einen Neuanfang.
Dieser leicht zu lesende Roman besticht durch seine gut recherchierten Hintergrundinformationen, die gekonnt in die unglaublich spannende Handlung mit eingeflochten sind, aber auch durch seine differenzierten Betrachtungsweisen des Erzählten. Neben den zeitgeschichtlichen Hintergründen werden hier viele Fragen zu Schuld, Wissen und Unwissen, Familientabus, Geheimnissen, Gut und Böse und das Zusammenleben von Kulturen angesprochen. Zusammen mit den gefühlsbetonten und bildhaften Formulierungen regt er in vielen Passagen zum Nachdenken und Philosophieren an. Manchmal ist das, zusammen mit den eingestreuten Zitaten, fast schon zu viel des Guten, denn es lenkt den Leser stark ab und erschwert das Wiedereinsteigen in die Handlung.
Der Autor hat sich sehr mit Beweggründen und Gefühlen seiner Protagonisten auseinander gesetzt. Besonders die Charaktere der Vergangenheit sind ihm gut gelungen. Moritz, Yasmina, Victor und ihre Zeitgenossen sind realistisch und lebendig gezeichnet. Die Handlung kommt einem sehr nahe und man erlebt immer wieder eine Achterbahn der Gefühle. Nina und die Personen in der heutigen Zeitebene bleiben leider dagegen etwas blass und flach. Was ich sehr schade fand, denn gerade Nina hat mich in der Leseprobe besonders angesprochen. Und auch bei Joelle bleiben viele Fragen unbefriedigend offen.
Ich bin etwas hin und her gerissen wie ich das Buch bewerten soll. Ich bin begeistert von der Betrachtungsweise des Autors, von der Fülle an zitier-würdigen Passagen, der großen Recherchearbeit und der sensiblen Auseinandersetzung mit schwierigen Themen. Ich liebte anfangs die bildhaften Darstellungen, doch über 600 Seiten lang war mir das dann viel zu viel. Das könnte man gut mit Pralinen vergleichen: Man genießt eine und noch eine, doch nach 20 Stück wird einem schlecht. Meiner Meinung nach, hätte das Buch gut 100 Seiten kürzer sein können.
Auch bin ich normalerweise ein Fan von offenen Enden und Erzählsträngen, die nicht auserzählt werden, denn das macht es für mich lebensnaher/realistischer. Doch ich hätte die offenen Enden an anderen Stellen besser gefunden, anderes hängt für mich unlogisch offen in der Luft. Wie z.B. die Frage was mit Moritz weiter passiert ist, besonders in der Beziehung zu Joelle. Wenn Joelle so viel von Moritz erzählt, warum nicht auch das?
Für mich war das Buch ein Gewinn. Ich habe viel Neues über Tunis und den Afrika-Feldzug erfahren, wurde zum Nachdenken angeregt und gut unterhalten. Ich würde es allen Lesern mit Durchhaltevermögen empfehlen, die sich einen Roman mit Tiefgang wünschen, der trotzdem leicht zu lesen ist.