Ein außergewöhnlicher historischer Roman
Mit ihrem herausragenden Romandebüt „Die letzte Reise der Meerjungfrau“ ist der talentierten britischen Autorin Imogen Hermes Gowar ein äußerst faszinierender historischer Roman gelungen. In ihrer großartigen Geschichte erzählt sie über menschliche Schicksale, über das ewige Streben nach Macht und Reichtum, über Begierden und Leidenschaften, Wunschträume und ernüchternde Wirklichkeit.
Gekonnt lässt uns Gowar ins quirlige London des 18. Jahrhunderts eintauchen, in dem sie uns mitnimmt in die geschäftigen Kaffeehäuser der Metropole, zu den wimmelnden Docks an der Themse und in die berühmtesten und dekadentesten Nobel-Bordelle der Stadt. Vor dem Hintergrund hervorragend recherchierter, historischer Details lässt sie die schillernde und sehr faszinierende Welt zur Georgeanischen Ära lebendig werden – einer Welt, die fast ausschließlich von Männern kontrolliert und dominiert wird und in der Frauen nur sehr begrenzte Entwicklungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Das von ihr entworfene, facettenreiche Portrait zeigt eine dekadente, vornehme Gesellschaft mit ihrer Doppelmoral, voller Standesdünkel, Rassismus und strikter Sittsamkeit, aber auch den verruchten Teil des Molochs, den einige der vornehmen Herren nur allzu gut kennen. Hier lernen wir eine Gesellschaft kennen, die sich an immer neuen, monströsen Kuriositäten in Ausstellungen ergötzt, während sich erschreckende menschliche Schicksale in den Gossen der Stadt ereignen, wo Menschen in Armut und Elend vegetieren müssen.
Getragen wird diese grandiose Geschichte vom besonderen, atmosphärisch dichten Flair und dem Facettenreichtum seiner Figuren vor dem hervorragend beleuchteten historischen Hintergrund jener Zeit, weniger von einer spannungsgeladenen Handlung. Daher lässt sich dieser Roman auch nicht einfach so „herunterlesen“, sondern erfordert anfangs einiges an Konzentration und Geduld, um sich in die sich gemächlich entwickelnde Handlung hineinzufinden. Nach und nach ist man dann aber als Leser völlig gefangen von der abwechslungsreichen und ergreifenden Geschichte, die mit einigen sehr unerwarteten Wendungen zunehmend mehr Dynamik gewinnt und äußerst stimmig endet.
Gowar verwendet einen wundervoll lebendigen, humorvollen und recht anspruchsvollen Erzählstil gewürzt mit vielen detailreichen Beschreibungen und äußerst witzigen Formulierungen. Sehr geschickt ist von der Autorin auch das Motiv der Meerjungfrau gewählt, die zugleich für die vielen Frauengestalten steht, die damals in ihren Rollen gefangen waren und kaum ausbrechen konnten.
Brillant gezeichnet sind die beiden faszinierenden Hauptfiguren des Romans, die im Laufe der Geschichte zunehmend an Tiefe und Charisma gewinnen und mir immer mehr ans Herz gewachsen sind. So lernen wir zum einen den Kaufmann Jonah Hancock aus Deptford als männlichen Charakter kennen und zum anderen die berühmte Kurtisane Angelica Neal. Der grundsolide, etwas wunderliche Mr. Hancock ist eher charakterschwach, zögerlich und kann sich kaum gegen seine eigene Schwester wehren – alles in allem ein einfach liebenswerter Charakter. Angelica hingegen ist eine etwas naive, aber ziemlich berechnende junge Frau, die in ihrem kurzen Leben schon einiges durchgemacht hat und auf der Suche nach einem neuen reichen Gönner ist.
Auch die zahlreichen Nebenfiguren sind sehr plastisch ausgearbeitet und agieren für den Leser jederzeit schlüssig und nachvollziehbar.
Wie nun dieses so unterschiedliche Paar zusammenkommen wird und was dies alles mit der letzten Reise der wundersamen Meerjungfrau zu tun hat, erfährt man in dieser sehr kunstvoll gewobenen Geschichte.
FAZIT
Ein wundervoll berührender historischer Roman, der ein sehr anschauliches, vielschichtiges und faszinierendes Sittengemälde jener Zeit zeichnet! Mich hat der Roman bestens unterhalten, auch wenn ich anfangs mit den Charakteren und dem gemächlichen Erzähltempo Probleme hatte.
Ein unterhaltsames Lesevergnügen!