Auf Augenhöhe mit der russischen Romantik
"Wer die Musik von Rimsky-Korsakov im Konzertsaal süßlich findet, sollte seine Diabetes zu Hause lassen", sagte der große Celibidache. Recht hat er! Kaum ein Genre (und damit auch dessen Interpretation) ist hierzulande so falsch verstanden, wie die russische Klassik/Romantik. Vor allem junge Interpreten liefern hier heute zumeist nur enzyklopädische Einspielungen oder "Abendkassen-Highlights" wie das 2. Klavierkonzert ab.
Doch so wie es Cecilia Bartoli mit ihrem Vivaldi-Album geschafft hat, auch unbekanntere Werke eines Genres mittels genialer Interpretation erfolgreich zu vermitteln, hat die junge Pianistin Olga Scheps mit dem wunderbaren "Russian Album" eine Sammlung russischer Klavierminiaturen ausgewählt, die in perfekter Balance zwischen selten gehörtem und altbewährtem Repertoire den Zuhörer zu einem reichhaltigen Rendezvous einlädt, das ebenso mit offenherziger Melancholie wie mit Lebensfreude und Charme überrascht. Dass "Mütterchen Russland" so jung geblieben klingt, liegt nicht bloß nur an Olga Scheps' blendendem Aussehen oder ihrer Jugend. Es ist ihr persönlicher Zugang, die aufrichtige Begegnung auf interpretatorischer Augenhöhe mit dieser Musik, mit der sie ihr einzigartiges Chopin-CD-Debüt charakterstark weiterführt bei Sony Classical. Mutig, vor allem als Frau nach einem monothematischen Komponisten-Album und einem "Echo Klassik" gleich mit vollem Repertoire-Tiefgang von russischer Frühromantik (Titov, Glinka) über das "Mächtige Häuflein" (Balakirew), die "Neue Russische Schule" (Tschaikowsky, Ljadow) bis zur stalinistischen Moderne (Prokofjew) zu gehen. Auf einer längst vergriffenen "Limited Edition" des "Russian Albums" ist auch Medtners genial-sentimentale "Sonata reminiscenza" zu hören, gespielt wie ein Traum bei einer nächtlichen Schlittenfahrt. Humor zeigt die vielseitige Pianistin mit Ljadows "Musikalischer Tabatière": slawische Salonmusik mit ordentlich Schnupftabak zwischen den Saiten. Auch Rachmaninows "Barcarolle" ist Scheps großartig gelungen, ebenso Glinkas "Lerche" in der Klavierbearbeitung seines Schülers und Freundes Balakirew. Rachmaninows berühmtes Prélude g-Moll op. 23 Nr. 5 hört sich in den Händen dieser Frau in den Aussenteilen wie ein musikalischer Ritter-Kampf an, dämonisch, wie ein Duell zweier Märchenwesen. Im Mittelteil zeigt Scheps wunderbar gesungene Phrasierungen, bevor der Märchenkampf weitergeht und sich wie ein Flaschengeist im Nichts auflöst.
Was hier Berliner Rezensenten (welche diese CD offenbar auf einem MP3-Player in einem alten Auto gehört haben) einen "Russischen Piano-Cocktail" nennen, ist eher ein gut gekühlter edler Champagner, der in den Ohren prickelt wie ein russischer Regenbogen. Man ist ja sowieso erstaunt, wer sich im heutigen Berlin - der einstigen intellektuellen Achse zwischen Petersburg und Paris - so alles Klavierkritiker nennen darf: wo die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten... Aber nicht auf dieses Album, Olga Scheps sonnt ihre Demut vor den großen Meistern - Komponisten wie Klavierlegenden - im Bewußtsein ihres Könnens in Bescheidenheit. Das kann man mit "mezzo-cantabile" verwechseln, sollte es aber nicht.
Man darf gespannt sein auf das nächste Album dieser ganz besonderen Klavier-Persönlichkeit, für die Attribute wie "Neuer Stern am Chopin-Himmel" eher eine grobe Untertreibung sind. Joachim Kaiser nannte Olga Scheps "eine echte Entdeckung". Er betonte das Wort "echt" und bringt das Klavierspiel dieser jungen Frau damit auf den Punkt, für alle Zeit.