Spagat im Kathedralraum
Zur Besprechung steht an eine ganz neue Einspielung aus dem Verlag MOTETTE (Do-CD im Digi-Pack). Es spielt der in Sardinien 1986 geborene Giovanni Solinas an der Stock-mann-Orgel in St. Cornelius zu Viersen-Dülken. Herr Solinas hat MOTETTE in 2019 von der Familie Ricken übernommen und ist seitdem Inhaber und herausgebender Produzent des Verlages. Aber nicht nur das. Solinas ist auch aktiver Organist und Ensembleinterpret, zugleich auch Titular der Orgel und stellt die erst kürzlich (2023) behutsam restaurierte Orgel hiermit erstmalig im Klangbild vor, was aus diversen Gründen neugierig macht.
Es handelt sich wie erwähnt um eine Orgel aus dem Hause Stockmann in Werl, einem seit 1889 existierenden Familienbetrieb, der aktuell von einer weiblichen Doppelspitze geleitet wird, die einem engagierten Team vorsteht. Aus dem Hause Stockmann stammen viele bemerkenswerte Orgeln, deren Fähigkeiten auf diversen Tonträgern dokumentiert sind. Die nämliche Orgel wurde 1963, also in der zweiten Blütezeit der sog. Orgelbewegung, erbaut. Diese als eigenständig zu bezeichnende Richtung des Orgelbaus hat sein Ideal an barock ausgerichtetem Klangideal mit sehr viel hellen Stimmen, Aliquoten und kleinfüssigen Register und Mixturen orientiert. Inzwischen hat sich bis auf absichtliche Stilkopien das Klang-ideal weltweit geändert; man bevorzugt nunmehr einen Orgelstil, der die schlüssige Interpretation aller Epochen der Orgelmusik umfassen soll, mit einer mehr oder minder grundtönig-symphonischen Ausrichtung der Register, welche bei Großorgeln insbesondere die Romantik aus Frankreich, England, aber auch Deutschland berücksichtigen sollte. Die oft-mals zitierte und beschriebene Universalorgel ist damit aber nicht gemeint. Darüber sind sich die Fachleute mittlerweile einig; auch darüber, dass eine Universalorgel sowieso niemals gebaut werden kann. So weit, so gut. Mir sei noch eine persönliche Anmerkung gestattet. Ich habe nie etwas davon gehalten, vorhandene Orgeln in einer Art Bildersturm abzureißen oder ihrer ursprünglichen Charakteristik zu berauben, indem man nachträglich unwiderruflich in den Baubestand eingreift. Wenn das jeweilige Instrument in seiner Entstehungszeit handwerklich gut gemacht ist, im vorgegebenen Raume ebenso klingt und womöglich der Prospekt noch historisch oder anderweitig wertvoll ist, sollte man das Instrument als Abbild seiner Zeit erhalten. Die ist in St. Cornelius der Fall.
Was bietet nun die Orgel in St. Cornelius im jetzigen Zustand? Die Orgel wurde in zwei Abschnitten 1986 und 2006 von der Erbauerfirma behutsam erweitert bzw. restauriert, wodurch die klanglichen Möglichkeiten durchaus erweitert wurden, ohne die Grundsubstanz zu zerstören. In 2023 folgte dann durch die renommierte Orgelbaufirma Freiburger Orgelbau (Inhaber Tilman Späth) nochmals eine Revision. Die Orgel wurde leicht umgear-beitet, aber vor allem auf den Stand der Technik gebracht. Auch ein neuer Spieltisch mit sämtlichen modernen Spielhilfen wurde installiert. Die Orgel verfügt nun aktuell über vier Manuale mit 66 Registern und ist damit weiterhin die größte Orgel im Bistum Aachen.
Eine weitere Voraussetzung für das klangliche Erlebnis im Raum ist das Gebäude, in dem die Orgel steht. Wer sich ein wenig mehr als nur am Rande mit Orgelmusik beschäftigt, weiß, welche baulichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, um möglichst viele Epochen der Orgelmusik bedienen zu können, wobei einer der Schwerpunkte heutzutage unzweifelhaft die symphonisch-romantische Orgelmusik ist. Dennoch sollten auch Werke früherer Epochen insgesamt stilgerecht zu interpretieren sein. Das bedeutet, es müssen vielfältige Voraussetzungen erfüllt sein, um ein solches Ergebnis zu erzielen. Ein wesentlicher Punkt ist hier der sog. Kathedralklang, der mit Gewölben und Seitenschiffen zwingend rechnet und einen Nachhall von mindestens vier Sekunden ermöglichen sollte. Dies ist in der Regel bei gotischen oder neo-gotischen Räumen der Fall, und St. Cornelius erfüllt als neo-gotisches Bauwerk mit einem lang gezogenen Hauptschiff und vielen Seitenkapellen diese Voraussetzungen. Demnach ideal für Sinfonik (auch Transkriptionen) und die Orgelromantik. Das bedeutet aber nicht, dass man sich bei der Interpretation von Werken aus früheren Epochen, insbesondere des Barock, keine Gedanken machen müsste, wie man diese Werke in einem eher symphonischen Raum adäquat zur Geltung bringen kann. Das geht sicherlich nicht ohne eine gewisse Kompromissfähigkeit, insbesondere bei komplexen Kompositionen eines Böhm, Buxtehude, Bach oder a. m. Der Interpret ist sozusagen zu einem Spagat im Kathedralraum gezwungen, was jedoch nicht a priori ein Nachteil sein muss.
Wie hat sich der Titular Solinas nun mit der zuvor angesprochenen Problematik auseinandergesetzt? Wie ist das Ergebnis?
Herr Solinas hat mit seiner Programmauswahl einen konventionellen Weg gewählt und Stücke eingespielt, die bestens bekannt sind (bzw. sein sollten) und schon auf zahlreichen Tonträgern zu hören sind, sieht man einmal von „Salamanca“ (eines der drei Hamburger Präludien von Guy Bovet) ab. Als Komponisten sind außerdem zu nennen Frescobaldi, Pa-chelbel, Bruhns, Böhm, Bach, Mendelssohn, Boellmann und Liszt.
Schaut man sich die Laufzeiten der Stücke an, fällt mit Ausnahme von Frescobaldi und Bovet auf, dass diese länger als üblich bzw. gewohnt sind. Bei Boellmann und Liszt fällt der Unterschied sogar noch mehr ins Auge bzw. ins Ohr. Woran liegt das? Ich hatte bereits erwähnt, dass der klangliche Raum von St. Cornelius trotz aller Möglichkeiten der Orgel einen Kompromiss fordert, und zwar hauptsächlich bei der barocken Musik, zu der auch die von Frescobaldi zu zählen ist, aber mit weniger großen Einschränkungen. Daher auch der Begriff Spagat, denn die Aufgabe ist doch schwieriger als man glaubt. Denn spielt man in einem symphonischen Raum mit ordentlichem Nachhall barocke Stücke im gewohnten Tempo, führt das meist zu dem gefürchtetem Klangbrei, der die Stimmen der Orgel als auch die Komposition nicht mehr klar und durchhörbar zur Geltung kommen lässt. Die Komposition „verschwimmt“ im Raume! Solinas zeigt sich m. E. der zu lösenden Aufgabe sehr gut gewachsen. Die gewählten Registrierungen sind gelungen und den Kompositionen angepasst. Auf der anderen Seite zeigen sie, welche Reichtum an Klangfarben die Stock-mann-Orgel bietet. Der erwähnte Kompromiss erfordert fast überall ein gemesseneres Tempo als üblich, was automatisch zu längeren Spielzeiten führen muss. Das Geschick des Organisten besteht darin, dem Genüge zu tun, ohne dass der eigentliche Charakter der Komposition vollständig verlorengeht. Solinas gelingt das überwiegend sehr gut mit kleine-ren Abstrichen bei Pachelbel und Böhm. Auch das BWV 565 leidet prinzipiell kaum, und der virtuose Charakter des wahrscheinlich ursprünglich für Violine komponierten Stückes leidet nicht wirklich. Bei Bovet gibt es sowieso keine Probleme, weil „Salamanca“ über die Zeiten hinweg komponiert ist. Boellmann und Liszt sind mir persönlich etwas zu lang geraten, aber nach mehrmaligem Anhören kann man hier auch mit der Interpretation des Interpreten schlussendlich konform gehen. Die Vielfalt der hierbei gewählten Register – Boellmann lädt in unterschiedlichen Sätzen ja gerade dazu ein – möchte ich nochmals erwähnen.
Mein persönliches Highlight ist aber Frescobaldi. Ich habe diese klar und deutlich komponierte Toccata noch niemals so klangmächtig gehört wie auf der vorliegenden Aufnahme! Einfach nur gewaltig, und dass trotz, besser aber wegen des gegebenen kathedralen Raumes, der im Zusammenspiel zwischen Güte der Komposition, dem Geschick des Organisten und den Fähigkeiten der Orgel eine ideale Ergänzung findet! Man fühlt sich absolut in die Klangwelt der französischen Kathedralen versetzt, in denen die weltberühmten Instrumente eines Cavaillé-Coll das Orgelherz erfreuen! Und das mit Frescobaldi. Grandios!
Zusammenfassend möchte ich zur Qualität der Interpretation Folgendes sagen:
- Bekanntes Repertoire, aber mit eigenem Stil abwechslungsreich interpretiert und am Ende mit gelungenem Spagat durch die Epochen und im Raum
- Die Stockmann-Orgel ist für das gewählte Repertoire und sicher auch darüber hinaus trotz ihrer Erbauungszeit (Oder vielleicht sogar wegen?), die man heute weniger mag, ein adäquates Instrument, welches hervorragend klanglich in den gegebenen Raum integriert ist.
Am Schluss noch ein paar Worte zu Booklet und Aufnahmetechnik.
Das Booklet ist dreisprachig, opulent bebildert und enthält ausführlich alle wesentlichen Informationen, und zwar auch für den Orgel-Connaisseur. Mit Guido Krawinkel hat Herr Solinas einen Fachmann gewinnen können, der über eine profunde Ausbildung und dementsprechendes Wissen verfügt. Seine Informationen zu den Stücken sind so kurz wie möglich, aber so informativ wie nötig gehalten und auch für den weniger bewanderten Orgelmusikliebhaber geeignet und verständlich.
Die Aufnahmetechnik ist perfekt. Die Mikrofone stehen alle richtig. Das Klangbild der Orgel ist realistisch und naturgetreu eingefangen.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es Herrn Solinas gelungen ist, seine Orgel überzeugend und vielfältig zu präsentieren. Kleinere, vorstehend erwähnte Abzüge fallen nicht wirklich ins Gewicht und ändern auch nichts an der Gesamtbewertung.