Atemberaubende Kopf-Befreiung
Johannes Ockeghem, Hauptvertreter der Niederländischen Polyphonie der frühen Renaissance, galt der Musikwissenschaft des 19.Jh. als Prototyp eines gelehrten und vertrackten Komponierstiles, der aufgrund seiner Kompliziertheit wohl eher geachtet als geliebt wurde. Und die „missa caput“ erschien da als besonders „verkopftes“ Mysterium, wegen ihres theologischen Bezuges einerseits, und weil das zugrunde liegende Motiv-Zitat über Jahrhunderte nicht aufgeklärt werden konnte. Sie verarbeitet als cantus firmus ein Melisma aus dem „venit ad petrum“ der Gründonnerstagsliturgie, welches bei der Fußwaschung gesungen wird, wenn Jesus zu Petrus sagt: Wenn Du Dir nicht die Füße waschen lässt, so wirst du keinen Teil haben an mir, und Petrus antwortet: Herr, dann wasche mir nicht nur die Füße, sondern auch die Hände und das Haupt (caput). Schon zu Anfang des Kyrie etwa setzt Ockeghem einen ersten theologischen Verweis, ein erstes gelehrtes Rätsel: Indem er den Tenor, welcher den cantus firmus des Caput-Melismas ausführt, nach unten oktaviert, verlegt er sozusagen den Kopf unter die Füße, interpretiert also die Fußwaschung als Akt geistiger Reinigung.
Hört man ältere Aufnahmen dieser Messe, etwa die sehr gute Einspielung von The Clerk’s Group von 1998, dann ist darin die große Ehrfurcht vor der enigmatischen Schönheit dieser Musik deutlich zu spüren.
Doch Björn Schmelzer, ein junger Musikwissenschaftler und Dirigent der Gruppe Graindelavoix, macht etwas völlig Neues und, dies gleich vorweg gesagt, Atemberaubendes. „Die Idee: der Musik Ockeghems einen neuen Klang verleihen“, so schreibt er im Booklet. Dazu versammelt er in seinem Ensemble zum einen bewusst lauter junge Sänger, die sich in ihrem Timbre sehr stark unterscheiden. Darüber hinaus lässt Björn Schmelzer das Werk nicht einfach nur nach dem in den Handschriften überlieferten Originalnotenbild, sondern unter Anwendung einer alten französischen Verzierungstechnik singen, der Machicotage („a style of singing, especially of sacred music, cultivated from the late Middle Ages ..., centered on Paris, and derived from the Gallican ritual; in this style vocal lines are decorated with improvised ornamentation, and differentiated from each other in a polyphonic composition also by tone color.“ zit. nach Wiktionary).
Das Ergebnis: Musik, die unter die Haut geht. Eine Musikerfahrung von unglaublicher innerer Spannkraft. Man hört in dieser Aufnahme nicht den gewohnten, harmonisch englischen Mischklang. Jede Stimme dringt vielmehr individuell und rauh an unser überraschtes Ohr, es gibt keinen runden gepflegten Kirchensound, sondern ein aufregendes Zusammentreffen von Einzelstimmen, von denen jede ihre eigene Färbung und Textur unterscheidbar behält. Die Intensität der einzelnen Linie wird nicht dem vertikalen Gesamtklang geopfert. Schon im rätselhaften Beginn des Kyrie etwa hören wir also nicht die „verkopfte“ Gelehrtheit eines vertrackten alten Komponierstiles, sondern erleben durch die auf den ersten Moment fast erschreckend „authentische“ Individualität der Einzelstimmen die beschriebene Bass-Oktavierung des Tenors als unmittelbare Erschütterung. Diese Musik bläst einem den Kopf frei. Für mich gehören die Aufnahmen von Ensemble Graindelavoix zum Aufregendsten, was in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Renaissance-Musik veröffentlicht wurde.