Eine Ausnahmekünstlerin des 20. Jahrhunderts
Nachdem die RCA (Radio Corporation of America) 1986 von ihrem einstigen Gründer General Electric übernommen worden war, entschied sich GE, das Schallplattengeschäft an den deutschen Medienkonzern Bertelsmann AG zu verkaufen. Nach dem Zusammenschluss der Bertelsmann Music Group mit der japanischen Sony Music entstand die Plattenfirma Sony-BMG. 2008 gaben Bertelsmann und Sony die Auflösung des Joint Ventures von Sony BMG bekannt. Sony übernahm die Anteile von Bertelsmann und firmiert seitdem unter dem Namen Sony Music Entertainment Inc. Die Verantwortlichen bei Sony haben nun der italo-amerikanischen Sopranistin Anna Moffo, die bei RCA von Ende der Fünfziger bis Mitte der Siebziger Jahre ihre bedeutendsten Aufnahmen gemacht hat, aus Anlass ihres 10. Todestages am 9. März 2016 ein 12 CDs umfassendes Portrait gewidmet, das sämtliche bei RCA aufgenommenen Alben enthalten soll. Das ist nicht ganz richtig, denn ihre letzten beiden Aufnahmen (THAIS von Massenet, 1974 und L’AMORE DEI TRE RE von Montemezzi, 1976) sind unterschlagen worden. Sieht man davon einmal ab, dann ist die vorliegende Sammlung eine enorme Bereicherung der Moffo-Diskografie, denn sie enthält viel Material, das bislang in Deutschland nicht erhältlich war.
CD 1 war bereits als Einzel-CD verfügbar und enthält das ital./franz. Arien-Recital, dass Moffo 1960 unter der Leitung des Callas-Mentors Tullio Serafin aufgenommen hat. Wenn man zwei oder drei leicht verrutschte Töne mal außer Acht lässt, dann ist dieses Recital zweifelsfrei eines der schönsten, die zu dieser Zeit aufgenommen wurden. Die Stimme ist in jeder Lage angenehm, spricht gut an, ist beweglich und hat den samtigen Moffo-Klang der frühen Jahre. Fast unglaublich ist ihre Fähigkeit zum Legato – wenn es nicht so paradox wäre, würde ich sagen: sogar ihre Staccati sind legato gesungen.
Die zweite CD unter dem Titel THE DREAM DUET bringt Aufnahmen, die Moffo 1963 mit Sergio Franchi eingespielt hat: Duette von Victor Herbert über Sigmund Romberg, Noel Coward und Franz Lehár bis zu Oscar Straus, in Deutschland meines Wissens bislang nicht veröffentlicht.
CD 3, ebenfalls aus dem Jahr 1963, bringt das Verdi-Recital unter Franco Ferrara – mit einem interpolierten mutigen Es‘‘‘ bei Surta è la notte aus ERNANI, mit einer merkwürdig unentschlossenen Kadenz am Ende von D’amor sull‘ali rosee aus IL TROVATORE, mit einer fulminanten Darbietung der GIOVANNA D’ARCO, einem zum Niederknien schön gesungenen Lied von der Weide und Ave Maria aus OTELLO.
Und noch zwei weitere Aufnahmen datieren aus dem Jahr 1963: die PORTRAIT OF MANON – Auszüge aus den Opern von Massenet und Puccini auf den CDs 4 und 5. Massenet lag der Moffo deutlich näher als Puccini, wenn auch die MANON-Ausschnitte erheblich unter der Mitwirkung von Giuseppe di Stefano leiden, der klanglich zwar gut zur Moffo passte, stimmlich aber seinen Zenit bereits hörbar überschritten hatte. Der 11 Jahre ältere Sänger neigt bereits zu verhärteter Tongebung und vor allem dazu, hohe Töne mit der Kiefermuskulatur zu halten, anstatt sie auf dem Atem liegen zu lassen. Das Falsettieren und eine klanglich ganz scheußliche Kopfstimme komplettieren das Missvergnügen. Die Moffo allerdings ist als MANON eine Klasse für sich. An der MET hatte sie mit Gedda und Corelli die besseren Partner.
Bei Puccini bekommt sie es dann mit Flaviano Labò zu tun – auch nicht gerade der Prototyp einer geschmeidigen Tenorstimme, aber gegenüber di Stefano schon ein Gewinn.
1963 wird auch als Aufnahmejahr der FLEDERMAUS-Auszüge genannt, aufgenommen in englischer Sprache mit dem Chor und dem Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Oscar Danon, der das Werk spritzig-markant dirigiert. Die englische Sprache ist gewöhnungsbedürftig – vielleicht wurde auch deshalb die Aufnahme bislang in Deutschland nicht als CD veröffentlicht. Nicht gewöhnen kann ich mich dagegen an die Darbietung von Rise Stevens, die den Prinzen Orlofsky zur Knallcharge degradiert. Will man etwas noch Grässlicheres hören, muss man schon bei Florence Foster Jenkins suchen…
CD 7 bringt ein Solo-Programm aus dem Jahr 1964 mit Songs von Richard Rodgers über Franz Lehár und Fritz Kreisler bis zu Noel Coward und Irving Berlin. Hier wird einmal mehr deutlich, dass die Moffo in ihrer Glanzzeit wirklich alles singen konnte – stilübergreifend und doch immer authentisch – crossover, wie man es heute nennen würde. Auch dieses Album war bisher in Deutschland unveröffentlicht.
Nicht so die Chants d’Auvergne von Canteloube, die Bachianas brasileiras No. 5 von Villa-Lobos und die Vocalise op. 34 no. 14 von Rachmaninoff, aufgenommen 1964 unter der Leitung von Maestro Leopold Stokowski.
Mit der CD Nr. 9, bisher nicht zugänglich in Deutschland, machen wir einen Sprung in das Jahr 1971 und damit in eine Zeit, in der der Stern der Moffo bereits zu sinken begann. Die Sängerin war noch nicht einmal 40 Jahre alt, als sie diverse Lieder von Claude Debussy aufnahm, begleitet von Jean Casadesus am Piano. Moffos Stimmführung wird schon unruhig und flackrig, ihre Piani haben nicht mehr das ätherische Schweben des Tons, die Tiefenlage beginnt jetzt vulgär zu klingen. Ob Debussy eine gute Wahl gewesen ist, würde ich im Hinblick auf die enorme Konkurrenz sowieso bezweifeln, obwohl ich der Moffo eine enorm gute französische Diktion zugestehe. Nach wie vor ist bei Debussy aber trotzdem Regine Crespin meine 1. Wahl.
Bei der Aufnahme der CD 10 mit HEROINES FROM GREAT FRENCH OPERA aus dem Jahr 1974 sind Moffos Probleme bereits manifestiert und nicht mehr zu kaschieren. Am auffälligsten sind die Veränderungen am Ende längerer Phrasen, die auf einem Atem gesungen werden: auf der letzten Note beginnt der Ton zu vibrieren und bricht dann einfach weg. Trotzdem enthält sogar diese CD ein paar hörenswerte Passagen, z. B. den Beginn von D‘Amour l’ardente flamme aus der FAUST-Vertonung von Berlioz. Hier verwendet die Moffo einen Klang, der so sinnlich ist, so geil (sorry!) wie ihr Spiegelbild. Insgesamt am gelungensten ist wohl die Szene aus Meyerbeers ROBERT LE DIABLE, dagegen muss die Szene der Ophelia aus Thomas‘ HAMLET als ein Tiefpunkt der Moffo-Diskografie bezeichnet werden.
CD 11 enthält eine Auswahl von Arien und Szenen aus den Opern-Gesamtaufnahmen, die Moffo für RCA eingespielt hat. Es fehlen, wie oben erwähnt, die beiden letzten aus den Jahren 1974 und 1976 und überraschenderweise auch MADAME BUTTERFLY von 1958. Da war wohl kein Platz mehr auf der fast 80 Min. umfassenden CD. Man hätte sich besser den einen oder anderen der insgesamt 8 (!) Tracks von LUCIA DI LAMMERMOOR sparen sollen…
Die letzte CD beinhaltet den größten Teil der originalen Doppel-LP „Great Love Duets from Opera“, allerdings wieder unter konsequenter Auslassung des Duetts zwischen Thais und Athanael aus der THAIS von 1974, das auf dem Original vorhanden war. Die beiden Liebesduette aus MANON und MANON LESCAUT kennt man ja schon von CD 4 und 5 – eigentlich unnötig, sie in einem Sängerportrait doppelt zu präsentieren (und dafür Anderes einfach wegzulassen!).
Ein Schlusswort noch zum Booklet: SONY hat aufwändig recherchiert und bildet die 12 Original-Cover der LPs ab, dazu eine sorgfältige Track-Liste mit sämtlichen Aufnahmedaten (im Einzelfall sogar Tagesdaten!) und Orten der Einspielung. Der mehrseitige Begleittext, dessen prominenten Verfasser ich nicht namentlich benenne, enthält viel subjektive Betrachtungsweise und neben dem irreführenden Titel DER FLUCH DER SCHÖNHEIT einige Bemerkungen, die schlicht falsch oder einfach nur schlecht recherchiert sind. Es ist nicht richtig, dass Anna Moffo am 9. März 2006 einem zehnjährigen Krebsleiden erlegen ist. Den Krebs hatte sie bereits Ende der 70ger Jahre besiegt. Danach hat sie noch viele Jahre lang gesungen. Gestorben ist sie (den Angaben ihrer Stieftochter zufolge, die es wohl wissen sollte!) an einem Schlaganfall. Ganz falsch ist die Aussage, Moffo habe ihre letzte vollständige Aufführung 1976 gesungen (dies trifft vielleicht auf die MET in New York zu). Aus dem Jahr 1977 existiert der Mitschnitt einer TOSCA-Aufführung aus St. Petersburg (ganz passabel übrigens) und am 7. Juni 1981 hat der Verfasser dieser Rezension persönlich einer vollständigen TRAVIATA-Aufführung im Staatstheater Kassel beigewohnt. Es werden nicht die einzigen Aufführungen der Moffo nach 1976 gewesen sein… Zusammenfassend müsste ich, der ich schon als Jugendlicher süchtig nach dem Moffo-Sound war, eigentlich in allen Kategorien 5 Sterne geben – was objektiv aber nicht gerechtfertigt wäre. Jedenfalls ist diese CD-Zusammenstellung für jeden Moffo-Fan unverzichtbar und für alle Anderen sehr empfehlenswert, um diese Ausnahmekünstlerin des 20. Jahrhunderts kennenzulernen.