Cynthia Nickschas‘ unerhörte Eruption
Im Ernst - ich gebe sie momentan alle hin: die Lieder der Beatles über das Jung-und-Verliebt-sein, die glanzvollen Songs der empörten Pink Floyd, die illustren und fein-gestrickten Fantasiewelten von King Crimson und Gentle Giant und die zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankenden Songs Van der Graafs. Ich gebe momentan auch hin: die heitere, vornehme Kunst Mozarts und die weltabgewandte Musik Chopins oder die verführerischen Gesänge von Bizets Carmen.
Und ich gebe momentan hin: die abgründigen und doch das Leben trotzig umarmenden Chansons einer Piaf oder Knef, die ernst-gemütlichen Balladen Meys, oder die weisen von Theodorakis, die Melancholie des Chet Baker, die kühle Zärtlichkeit Sades, die männlich-fordernden Gesten eines Frank Sinatra, Elvis Presley oder Freddie Mercury, die intelligent-berührenden Statements Rio Reisers und anderer deutscher Rockpoeten oder die Wärme und Nonchalance einer Amy Winehouse.
Diese Musik ist seit knapp zwei Jahren in den Hintergrund gerückt. Ich hatte dies gar nicht für möglich gehalten: dass sich jemand so frech vor meine Lieblingssongs stellen könnte. Unerhört ist das…dennoch danke, Cynthia.
Als verfrühtes Geschenk zu meinem 50.Geburtstag flog mir diese Nachtigall zufällig zu, nämlich in Form eines schönen Radiokonzerts. Seitdem hat sie mich nicht mehr verlassen. Jeden Tag erklingt nun ihr Gesang - zu meinem Erstaunen gleichbleibend frisch und munter. Sie hat in mir eine Saite zum Klingen gebracht, die ich schon lange nicht mehr vernommen habe. Auch dafür einen lieben Dank.
Woran liegt das? Muss nicht eine große Lücke endlich in mir gefüllt worden sein? In der Tat hatte ich das Gefühl, dass Lieder dieser Art schon längst überfällig waren. Sie sind von hoher gesellschaftlicher Brisanz, denn endlich findet hier jemand eine kritische Haltung zu den Geschehnissen unserer Zeit - ohne dabei an Hoffnung und Lebenslust einzubüßen. Ich drohte ja bereits zu ersticken! Wie befreiend dieses Erlebnis für die Seele ist, dass da jemand das musikalisch ausdrückt, was man selbst denkt und hofft und fühlt.
Cynthias Lieder wissen den Zumutungen und Verlockungen modernen Lebens etwas entgegenzusetzen. Ihre Botschaft ist so revolutionär wie einfach - und es ist eine frohe Botschaft. Sie findet sich in ihren Liedtexten, doch mitreißender und unwiderstehlich in ihren Tönen.
Es sind Rezepte zum Leben, die sie uns schenkt. Die Songtitel geben bereits Auskunft: Positiv denken. Tanz. Musik. Träume. Reise ins Blau. Ihre Verse gleichen magischen Beschwörungsformeln und so wirken sie auch. Die Musik dieser Sängerin und Gitarristin ist ansteckend und wer sich ihr hingibt ist: verloren. Er verliert an modern gewordenen Werten, als da sind: Starrheit des Gefühls, Desillusionierung, Konsumseligkeit, Zynismus, Resignation, Abgeklärtheit, Utopielosigkeit.
Wer sich auf Cynthias Kunst einlässt hat: gewonnen. Er gewinnt an Optimismus, Begeisterungsfähigkeit, Fantasie, an Behauptungs- und Siegeswillen, Spontaneität und Lust an Visionen.
Es sind bekannte Geister, die hier neu beschworen werden: es sind die Zauberkräfte unserer Kindheit. Hierin erinnert sie mich an, an...- nein, nicht an das bezopfte Mädchen mit ihrem gepunkteten Pferd - oder doch ja, an die auch - nein: ich denke eher an einen, der in den 70er Jahren Deutschland vielleicht rockte wie kein Zweiter…er war damals wohl der beliebteste Deutsche…er hat seinen Namen untrennbar (nicht mit einem Egoschwein, sondern) mit einem kleinen Elefanten verbunden…er wurde geliebt von alt und jung…und wir Kinder spielten seine Sketche textsicher auf den Schulhöfen nach.
Und welch eine Gabe, wie unser Energiebündel hier die Lust an sich selbst und der Welt zum Ausdruck bringt! Ihre Kunst wendet sich an alle Menschen - niemand bleibt ausgeschlossen, niemand wird geschont. Ob jung, ob alt, ob black or white - es sind Lieder für uns alle („Alles gleich Mensch“ heißt eine ihrer Kompositionen). Ich habe mehrmals erlebt, wie eine gute, türkische Bekannte von mir (Kopftuchtragend und mit unzureichenden Deutschkenntnissen) bei dem Lied „Warum“ mitging und mitzusingen versuchte - noch dazu an der Stelle, wo der Text in vollem Tempo nur so dahinfliegt…das war ein lustiger und schöner Moment. Danke.
Ich sehe diese Liedermacherin neuen Typs in erster Linie als die Bewahrerin kindlicher Lebensfreude und, ja - lust. Sie befindet sich damit in guter Gesellschaft. Wie vor ihr schon Astrid Lindgren oder Mark Twain leistet sie einen Beitrag für den Erhalt dieses gefährdeten Paradieses. Man könnte meinen, unsere Heldin sei selbst einer Geschichte eines dieser Autoren entstiegen.
Geradezu unglaubhaft ist die gleichbleibend hohe Qualität ihrer Lieder. Es fehlen die Albumlückenfüller - wie man das sonst so kennt. Die Quintessenz ihrer Botschaft findet wunderbarerweise in jedem ihrer Stücke einen wechselnden Ausdruck. Dabei ruft sie uns unaufhörlich ins Ohr:
„Es ist Zeit! Schau doch her, wie ich es mache. Mensch, nun aber los, mach mit! Worauf wartest Du?“
Diese Songs laden uns zum Mit- und Nachmachen auf. Unvermittelt beginnt man zu ihnen zu tanzen, belebt sich und die Zuversicht steigt. Im Lied „Jamsessions“ besingt sie übermütig ihre Motivation: „Ich krieg‘ Gewissensbisse, wenn ich euch nicht wissen lass‘, was ihr an mir verpasst, oho.“ Das ist ganz schön aufdringlich. Aber danke für diesen Drang und die Aufbruchstimmung in Deinen Liedern!
Aber ich höre Dich, lieber Leser, ungeduldig und leicht genervt fragen: „Wieso kenne ich diese Musikerin dann nicht? Wo sie doch so grandios zu sein scheint!?“
Nun…, beinahe unerhört ist sie tatsächlich in Deutschland (anders als Zaz in Frankreich, die im Lied „Je veux“ ihr als Einzige ähnelt), und unerhört ist dieser Fakt, aber diese Lieder rütteln an Kräfte im Menschen, an die eben nicht gerüttelt werden soll. Sie verbreiten eine allzu revolutionäre Atmosphäre...Diese Musik wird darum kaum Förderer finden und hat es schwer, eine breite Aufmerksamkeit zu erringen. (Wo sie gehört wird, findet sie gewiss auch ihr Publikum). Doch bin ich zuversichtlich, dass mit der Zeit diese Lieder sich ihren Weg bahnen und sich dann über Deutschland und noch weiter ergießen werden. Solch eine Liedersammlung lässt sich bestimmt nicht ewig durch seichten Singsang übertönen.
Noch ein paar Worte zu den beiden bisher erschienenen Alben von Cynthia Nickschas. Das erste Album „Kopfregal“ klingt rund und aus einem Guss. Das zweite Album „Egoschwein“ - in weitgehend neuer Besetzung aufgenommen - klingt unbestimmter und verspielter. Bei manchen Songs empfinde ich einzelne Live-Versionen als stimmiger, da der Sound in ihnen mir dort vertrauter ist. Ich hätte mir die Interpretationen etwas weltläufiger und die Gitarre öfter als Leadinstrument gewünscht.
Bemerkenswert ist, dass die jetzige Band sich stetig weiterentwickelt und ihre wechselnden Song-Interpretationen auch, wie man bei vielen Live-Acts auf Youtube hören kann. Großartig sind auch Cynthias‘ Soloversionen ihrer Songs, u.a. „Eine Reise ins Blau“, „Wohin der Wind Dich weht“, „Alles gleich Mensch“, „Schissig“. Was auffällt ist, dass es ganz und gar nicht an neuen Ideen fehlt.
Zu loben ist auch die Bühnenpräsenz der Band, wie ich sie in Leipzig einmal erleben durfte - unverstellt, entspannt, sympathisch, voller Spielfreude und Energie. Viele Leute im Publikum tanzten und genossen sichtlich die Atmosphäre. Live kommt auch die Vielfalt der Instrumentierung (2 Gitarren, Saxophon, Geige, Bass und Schlagzeug, und neuerdings Trompete) und die Buntheit ihrer Lied-Variationen schön zur Geltung.
So, jetzt muss ich aber Schluss machen - sonst wird dieser Text glatt noch zur Hommage!