Beeindruckender und intensiver Roman, der unter die Haut geht
Der S. Fischer Verlag hat "Die Wahrheiten meiner Mutter", den neuen Roman der norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, veröffentlicht, der in Norwegen bereits 2020 unter dem Titel "Er mor død (Ist Mutter tot)" erschienen ist. Das Buch stand auf der Longlist für den diesjährigen International Booker Prize.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 60-jährige Ich-Erzählerin Johanna. 30 Jahre ist es her, dass die Jurastudentin, die mit einem jungen Anwalt frisch verheiratet war, einen Abendkurs in Aquarellmalerei besuchte. Sie verliebte sich in den amerikanischen Kursleiter Mark und brannte mit ihm nach Utah durch. Später kam Sohn John auf die Welt, und Johanna arbeitete erfolgreich als Malerin. Nach dem Tod ihres Mannes ist Johanna nun wieder in der Heimat, da dort eine Retrospektive ihrer Werke geplant ist. Sie bezieht eine Wohnung am Fjord, die nur 4 1/2 km von der Wohnung ihrer Mutter entfernt liegt. Später mietet sie sich zusätzlich eine kleine Blockhütte im Wald, in der Hoffnung, dort gut arbeiten zu können.
Ihren plötzlichen Weggang haben die Eltern trotz erklärender Briefe von Johanna nie verstanden, ihre Berufung als Malerin nie akzeptiert. Sie finden ihre Bilder "Kind und Mutter 1 und 2" empörend und reagieren gekränkt. Als der Vater einen Schlaganfall erleidet, reist Johanna nicht in die Heimat, sie kommt auch nicht zur Beerdigung. Ihre Mutter und ihre jüngere Schwester Ruth sind so verletzt, dass sie den Kontakt zu Johanna abbrechen.
Seit Johanna zurück ist, versucht sie, ihre mittlerweile 85-jährige Mutter in ihrer Wohnung anzurufen. Sie erreicht sie nicht, versucht es immer wieder. Warum geht die Mutter nicht ans Telefon? Hat Ruth ihre Nummer gesperrt? Johanna fragt per Email bei der Schwester nach und erhält keine Antwort. Auch auf ihre Briefe an die Mutter erfolgt keine Reaktion. Sie wünscht sich verzweifelt, mit der Mutter in Kontakt zu treten, um über die Vergangenheit zu sprechen, und sie beginnt, sich den Alltag der Mutter, wie er sein könnte, vorzustellen. Ihr Wunsch, sie zu sehen, ist so groß, dass sie sie heimlich beobachtet und ihr auf ihren Wegen folgt.
Das Buch über den krampfhaften und verzweifelten Versuch der Wiederannäherung einer Tochter an ihre Mutter hat mich gleichermaßen gefesselt und erschüttert. Ich konnte nicht verstehen, dass eine Mutter ihre Tochter nicht sehen will, dass sie sich nicht für Johanna, deren Sohn und den Enkel interessiert. Johanna lässt nicht nur ihre Kindheit Revue passieren und sucht nach den Gründen, weshalb ihre Mutter zu der geworden ist, die sie nun ist, sie hinterfragt auch ihre eigene Vergangenheit und ihre Entscheidungen. Die Autorin schreibt in wunderbarer und intelligenter Sprache, die Kapitel sind kurz, bisweilen umfassen sie nur einen oder zwei Sätze. Die Charaktere sind authentisch und bildhaft gezeichnet. Vigdis Hjorth ermöglicht es dem Leser, intensiv in Johannas Gefühls- und Gedankenwelt einzutauchen und dabei ihren Schmerz zu erleben.
Mir hat der intensive und berührende Roman, der mich noch lange beschäftigen wird, sehr gut gefallen - absolute Leseempfehlung!