kleine Mogelpackung - leider nicht "complete recordings on Archiv Produktion und DG"
Ich habe die Box heute bekommen. Natürlich habe ich noch keine CD daraus gehört, aber darum geht es mir auch nicht. Zu den mir größtenteils bereits bekannten Aufnahmen selbst und dem Dirigenten gibt es kaum etwas zu sagen: das ist absolute Weltspitze (auch wenn es im Detail in einigen Fällen bessere Aufnahmen geben mag), und die Vielseitigkeit John Eliot Gardiners zeigt sich daran, dass er sich, weit abseits seiner "Originalklang"-Aufnahmen mit Bach, Mozart und Beethoven, auch in komplett anderem Repertoire behaupten kann, bis hin zur Wiener Operette oder Lili Boulanger.
Anlass zur Kritik gibt es daher nur in anderen Punkten:
1.) Repertoire: ich wünsche mir generell von JEDEM seriösen, egal wie berühmten und bedeutenden Interpreten, dass er sich nicht nur im überstrapazierten Standardrepertoire profiliert, sondern auch weniger prominenten Werken und Komponisten seine Aufmerksamkeit widmet. Es gab im Zeitalter Bachs, Mozarts und Beethovens eine große Anzahl Komponisten, die vielleicht nicht das "Niveau" der genannten Musik-Götter erreichten, aber dennoch erstklassige und absolut hörenswerte Musik schrieben. Nur ein Beispiel: die Sinfonien der Herren Louis Spohr oder Ferdinand Ries (ein Schüler Beethovens) kann man beim Hauslabel von jpc, nämlich cpo, erhalten, aber die "First-Class"-Interpreten von einst und jetzt, von Karajan, Bernstein, Abbado bis hin zu Harnoncourt und auch Gardiner haben diese Werke ignoriert, dafür immer wieder Beethoven, Beethoven, Beethoven. Man kann die Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien gar nicht mehr zählen, und es gibt immer wieder neue. Wer kauft das alles, wer hört das alles? Ich will hier nicht den Rang des Herrn Beethoven in Frage stellen, aber wenn ich immer wieder nur die Beethoven-Sinfonien hören würde, käme ich irgendwann mal in die Psychiatrie. Ich kann es mir fast nicht vorstellen, dass es Leute gibt, die sich permanent nur mit diesem Neuner-Paket auseinandersetzen und alles andere aus der Epoche als minderwertigen Schrott abtun. Aber es scheint so zu sein, das beweisen nicht nur die Aufnahmen des Herrn Gardiner, sondern auch die zahlreicher anderer berühmter und berüchtigter Dirigenten, deren "gesammelte Werke" bei Universal oder einem anderen Konzern in Boxenform bereits veröffentlicht wurden. Alle diese Star-Interpreten boten Beethoven bis zum Überdruss und kümmerten sich kein bisschen um seine Zeitgenossen.
2.) Aufmachung: es gibt - auch bei Universal - tolle Boxen, in denen die CDs im "Original-Jacket"-Design erschienen, also mit Wiedergaben der Original LP- oder CD-Cover. Zuletzt war das etwa bei Warners umfangreicher André Previn-Edition der Fall. Die Deutsche Grammophon resp. Universal scheint das heute nicht mehr nötig zu haben, denn die Gardiner-Box ist nicht die erste der letzten Monate, bei der man sich diesen Service geschenkt hat. Kundenfreundlich ist das meines Erachtens nicht, auch wenn selbstverständlich die Musik wichtiger ist als die Aufmachung der Edition. Trotzdem halte ich es für angemessen und wichtig, dass man den Käufern der durchaus kostspieligen Editionen auch was fürs Auge bietet, ganz zu schweigen von den Musikfreunden, die die alten Originalausgaben ganz oder teilweise besitzen und nun gegen die platzsparenden Boxen austauschen möchten.
3.) Vollständigkeit: das ist das Thema meiner Überschrift und der Hauptgrund meiner Abwertungen in der Gesamtbewertung und dem Gesamteindruck: Die Gardiner-Edition ist, soweit ich das beurteilen konnte, entgegen der vollmundigen Ankündigung, nicht "complete": vor mir liegt eine CD der Archiv-Produktion von 1993 - EAN 028943755627 - Mozarts "Thamos, König in Ägypten" (KV 345 bzw. 336a), mit Gardiner, dem Monteverdi-Chor und den Englisch Baroque Soloists. Diese Aufnahme konnte ich in der Box nicht aufspüren (sie ist auch weder bei jpc noch bei amazon noch bei sonst einem Anbieter in der Übersicht aufgeführt). Ob es weitere fehlende Aufnahmen gibt, ist mir im Moment nicht bekannt, da können vielleicht andere Musikliebhaber Auskunft geben, aber diese Aufnahme fehlt wohl definitiv. Es sei dahingestellt, ob aus Versehen oder aus Absicht: ich gebe deshalb weniger Punkte, weil das letztlich die Edition zu einer Mogelpackung macht. Service wäre es, wenn Universal diese (und eventuell andere) fehlende Aufnahme(n) an alle Käufer der Box gratis nachliefern würde.
Ansonsten möchte ich eine Kritik meines Vor-Rezensenten aufgreifen: es fehlen (natürlich) maßstäbliche Einspielungen Gardiners, die seinerzeit auf anderen Labels veröffentlicht wurden, z.B. Philips oder Erato. Das ist für mich bezogen auf die vorliegende Box kein Kritikpunkt, weil nun mal Philips nicht DG oder Archiv Produktion ist und Erato auch nicht. Philips gehört heute ebenfalls zu Universal und könnte problemlos in einer zweiten Box nachgeliefert werden, ähnlich ist man ja vor ein paar Jahren z.B. bei dem Dirigenten Seiji Ozawa vorgegangen (damals bot auch Universal noch "Original Jackets"). Für Erato wäre heute Warner zuständig, aber die bringen auch recht viele Boxen dieser Art heraus, so dass in den nächsten Monaten durchaus Hoffnung besteht auf weitere Boxen mit Aufnahmen von John Eliot Gardiner. Ich würde mir die Herausgabe solcher Editionen sehr wünschen.
PS: Ich würde mich auch sehr freuen, wenn Universal demnächst Boxen mit den Gesamtaufnahmen von Trevor Pinnock und Reinhard Göbel (Musica Antiqua Köln) herausbringen würde. Und auch eine Gesamtbox von Giuseppe Sinopoli würde sich positiv auf meine Grundstimmung auswirken!