Wegweisendes Standardwerk
Diese Geschichte Indochinas ist nun in vierter Auflage erschienen. Erstmals veröffentlicht 1981, diente es der Wissbegier westlicher Linker, die sich für die Freiheit Vietnams eingesetzt hatten und sich etwa fragten: Was ist das dort eigentlich für eine Kultur? Welche Traditionen hat sie, und wie kam sie auf den Kommunismus? Könnte sie uns Vorbild sein?
Aufschluss darüber gibt dieses Buch, das Jahrtausende in die Geschichte zurückgreift und die Entwicklungen Vietnams sowie auch der Nachbarländer Kambodscha und Laos darstellt, um deren kulturelle Eigenarten zu erklären.
Neu in dieser vierten Auflage sind vor allem die Kapitel über die historische Bedeutung des Vietnamkriegs sowie über die Weiterentwicklung Indochinas bis heute.
Giesenfeld vertritt hier eine neue, weitreichende These, die die Wissenschaft bereichert:
„Ähnlich wie die beiden Weltkriege darf der Vietnamkrieg als ein Ereignis gelten, das welthistorische Bedeutung hat. Er hat nicht nur die Geschichte der beteiligten Länder stark beeinflusst, sondern wurde auch vielfach als eine Zäsur in der Geschichte des 20.Jahrhunderts angesehen.“ (S.234)
Zur Untermauerung führt Giesenfeld drei Merkmale bzw. Begleiterscheinungen des Vietnamkrieges auf, die dort zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte auftauchten, aber seither immer wiederkehren – sie seien hier nur angedeutet, sie werden im Buch reichhaltig belegt:
1) Der Vietnamkrieg war ein „asymmetrischer“ Krieg, d.h. die Gegner waren sich nicht ebenbürtig, aber die militärisch unterlegene Seite kann ihre Schwäche ein Stück weit kompensieren durch Guerillataktik, Rückhalt in der Bevölkerung („Volkskrieg“) und ein Bündnis mit der Zeit.
In diesem Zusammenhang folgt Giesenfeld den Theorien Bernd Greiners und Herfried Münklers, kritisiert jedoch, dass diese Theorien der Asymmetrie im Westen, sofern sie auf Vietnam angewendet werden, bislang die wichtigste Asymmetrie verschweigen, nämlich dass die Vietnamesen um die Existenz ihres Landes, ihres Staates und ihrer Kultur kämpften, also um ihr Leben, und nicht für Machtinteressen von Poli-tikern oder Konzernen.
2) Der Begriff „Quagmire“ charakterisiert den „Schlamassel“, in den sich die USA brachten: Nicht nur erzielten sie keinen schnellen Sieg, sondern gerieten, je länger der Krieg andauerte, trotz Erhöhung ihrer militärischer Schlagkraft immer tiefer in den „Sumpf“ von Komplikationen und Rückschlägen.
„Seit Vietnam lässt sich ziemlich genau bestimmen, unter welchen Voraussetzungen jeder Krieg, den die USA jetzt oder in Zukunft führen, fast unausweichlich in den Quagmire mündet: die Weigerung oder Unfähigkeit (meist beides), die Situation in fremden Ländern jenseits einer militärischen Sichtweise zu analysieren, die ideologische Blindheit, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die nicht ins eigene Weltbild aus der Perspektive der unbe-siegbaren Großmacht passen, und eine tiefe Verachtung allem gegenüber, was nicht den eigenen, teils neoliberalistischen, teils christlich-fundamentalistischen Wert-vorstellungen entspricht.“ (S.245)
3) Moralisch waren sowohl die Ziele (Unterwerfung der Völker Indochinas unter Diktatoren, die den USA willfährig waren) als auch die Mittel (totales Bombardement, Verseuchung durch Agent Orange, Terror gegen Zivilbevölkerung) der USA verwerflich – daher bemühte sich die US-Führung um weitgehende Geheimhaltung selbst vor ihren eigenen Parlamentariern und Fachmi-nistern. Auch die Verhandlungen mit dem vietnamesischen Kriegsgegner in Paris hatten eine offizielle, aber bedeutungslose Fassade, während man die Vietnamesen zwang, inoffiziell im Geheimen mit Henry Kissinger, dem Leiter des „National Security Council“ (NSC) zu verhandeln – das NSC war eine Behörde, „ die weder demokratisch legitimiert war noch eine offizielle Regierungsfunktion hatte. […] Keine der dort geführten Diskussionen und getroffenen Entscheidungen durfte veröffentlicht oder weitergegeben werden.“ (S.247)
Versteckt vor der kritischen Öffentlichkeit konnten Nixon und Kissinger schalten und walten ohne Rücksicht auf Moral oder Gesetze: „Im Denken dieser beiden manifestierte sich ein Ausmaß an Uneinsichtigkeit in die Maßstäbe und Wertvorstellungen einer demokra-tischen Ordnung, das vorher tatsächlich kaum vorstellbar war. ‚Kissingers globale Karriere […] verdarb die amerikanische Republik und die amerikanische Demokratie, und sie kostete einen abscheulichen Tribut an Verlusten bei schwächeren und verletzlicheren Gesellschaften.‘ Nixon ist so der würdige Vorgänger von Reagan und George W. Bush, und Kissinger darf als opportu-nistische Geburtshelfer einer Phase der Weltpolitik gelten, die man als die ‚zynische‘ kennzeichnen könnte, im Sinne von moralisch bodenlos, skrupellos“ (S.251f.).
Heutzutage kann auch ein Präsident Obama das Ruder nicht mehr herum-werfen, und die internationale Abhör-Affäre bestätigt einmal mehr den Verlust rechtsstaatlicher Werteorientierung.
Haben die USA durch den Einzug der Markt-wirtschaft in Vietnam nicht doch einen späten Triumph erzielt? Ist der Sozialismus erledigt?
Giesenfeld macht in seiner Einschätzung das Erbe des Krieges geltend, das sich nicht nur negativ in Form des dioxinhaltigen Agent Orange im Boden und in den zerstörten Genen vieler Menschen niedergelassen hat, sondern auch positiv in der kollektiven Erfahrung von Solidarität und Gemeinschaft: Somit bestünde für Vietnam –im Gegensatz zu den anderen Entwicklungsländern- eine gewisse Chance, die ärgsten Auswüchse des Kapitalismus zu vermeiden. – Giesenfeld erörtert dieses spannende Thema auf dem aktuellen Stand, ebenso stellt er überzeugende Thesen zu den sehr unterschiedlichen Situationen in Kambodscha und Laos auf.
Zur weiteren Information sei die Lektüre dieses lehrreichen, kompakten, wissenschaftlich sorgfältigen Buches empfohlen, das trotz seiner 450 Seiten als sehr gerafft erscheint.
Robert Straßheim