Sinfonische Leichtigkeit
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert finden sich in der deutschen Musik zwei Ansätze: der konservative neoklassische und der progressive "neudeutsche", die sich zwar gegenseitig ablehnten, aber auch beeinflussten. Wer zu diesem Zeitpunkt eine Sinfonie schrieb, wählte zwar eine überkommene Struktur, zeigte aber normalerweise auch Innovationen und kleinere Systembrüche - man denke an Brahms und nicht zuletzt Mahler.
In den Jahren 1875 bzw. 1899 Sinfonien mit geradezu reaktionär klassischer Struktur zu schreiben, muss daher schon fast als anachronistisch bezeichnet werden!
Dem 1824 geborenen Carl Reinecke ging es nicht um ein Infragestellen des Althergebrachten. Für ihn war die Musik der Klassik ein unverrückbares Ideal, dem er sich in seiner hochromantischen Kompositionssprache verpflichtet hatte.
Nun könnte man Carl Reinecke mit dieser Einstellung noch als exotisches Phänomen einer konservativen Epoche abtun, wenn man nicht fairerweise anmerken müsste, dass er im 19. Jahrhundert einer der bekanntesten deutschen Komponisten war! Dass man Reinecke heute fast völlig vergessen hat und erst langsam wiederentdeckt, hat nichts mit mangelnder Begabung oder Überzeugungskraft in seinen Werken zu tun. Es ist mehr der Vorwurf der Wertlosigkeit, der Belanglosigkeit und Rückwärtsgewandheit, der Reineckes Musik von den Spielplänen verschwinden ließ - also ein rein dogmatischer und sicher nicht völlig zutreffender Ansatz. Wer Reineckes Musik wiederentdecken möchte, muss daher unbefangen sein und sich das Ideal des Komponisten vor Augen führen: eine "Vollendung" der Klassik in der Musiksprache in der Romantik. In diesem Geist stehen auch die hier vorgestellten Sinfonien.
Die Sinfonie Nr. 2 c-moll op. 134 trägt den Beinamen „Håkon Jarl“ - ein norwegisches tragisches Theaterstück. In der handschriftlichen Ausgabe der Sinfonie war gar jeder Satz der Sinfonie mit einem Bezug zum Theaterstück kommentiert. Da Reinecke selbst jedoch Wert darauf legte, dass die Sinfonie trotz dieser Bezüge keinem „Programm“ folgt, halte ich die Wiedergabe hier für entbehrlich. Die Grundstimmungen der einzelnen Sätze sprechen für sich selbst. Reinecke wählt für die ersten drei Sätze eine verhalten düstere, sehr melodische und in den Phrasen wellenförmige Tonsprache. Zwar wird diese jeweils durch hellere, teils auch freundlichere Motive durchbrochen, doch bleibt die Stimmung insgesamt düster. Erst im Finalsatz setzt sich ein schwärmerisches Dur-Thema durch und versöhnt die tragische Stimmung des Werkes mit melodischen und hellen Phrasen in immer neuen Variationen. So entsteht letztlich ein sehr abgerundetes Bild. An diesem Werk zeigt sich eine klare Stärke Reineckes: eine starke Besinnung auf Struktur und Melodik. Diese gibt dem Werk nicht nur einen logischen Aufbau, sondern macht es auch sehr angenehm zu hören. Seine Schönheit gewinnt es durch die Variationen der Themen und den romantischen Ausdruck.
Die Sinfonie Nr. 3 g-moll op. 227 ist viel stärker von Gegensätzen geprägt. Dieser zeigt sich sowohl innerhalb der Sätze - etwa im ersten, in dem Synkopen bewegten Phrasen gegenübergestellt werden - wie auch in der Ausprägung der Sätze untereinander. Reinecke ist selbstbewusst, zeigt Ecken und Kanten. Zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Sinfonie war er um die Erfahrungen eines Lebens reicher. So ist diese Sinfonie weniger melodiös „durchkomponiert“ als affektiert. Der Gesamteindruck ist abwechslungsreicher und pointierter als beim vorangegangenen Werk. Trotzdem ist es sehr klar strukturiert und manchmal gar von einer bestechenden Leichtigkeit. Ich halte darum die dritte Sinfonie für eins von Reineckes gelungensten Werken.
Zur Einspielung gibt es nur Positives anzumerken. Dem Tasmanische Sinfonie-Orchester gelingt es, die erwähnte Leichtigkeit und Transparenz angemessen auszudrücken. Die Interpretation verliert nie ihren Vorwärtsdrang und die einzelnen Phrasen sind sehr gut herausgearbeitet. Die Intonation ist klar und brillant. Eine rundum gelungene Einspielung.
Abschließend möchte ich diese beiden Werke als Einstieg in Reineckes Werk empfehlen. Man erfährt seinen klaren und sehr strukturierten (konservativen) Kompositionsstil und seine Hingabe an schwärmerische, romantische Melodiebögen - etwas, das ich an Reineckes Kompositionen insgesamt sehr schätze. Zugleich erhält man Einblicke in die Seele des Komponisten - die eines sehr zurückhaltenden, bescheidenen und immer freundlichen Menschen. Diese Eigenschaften bestimmen Reineckes gesamtes Werk.