Musikalische Schätze
Carl Reinecke - das ist ein fast vergessener Name. Carl Reinecke, der unglaublich produktive Komponist, der „letzte große Universalmusiker“, wie ihn der WDR einmal genannt hat. Kein Reformer, kein brillanter Bahnbrecher und Wegbereiter wie diejenigen Zeitgenossen, an die wir uns heute noch erinnern, Brahms, Dvorak und mit großen Abstrichen auch noch sein Schüler Bruch. Nein, Carl Reinecke war nicht mehr und nicht weniger als ein Epigone der frühen Romantiker und Wiener Klassiker, deren Musik und Ideale er fortführen und vollenden wollte. In seinem langen, erfüllten Leben blieb er diesem Ideal treu und musste schlussendlich damit bezahlen, dass man ihn fast völlig vergessen hat. Während Generationen von Musikern Reineckes Werke noch als anachronistisch und überholt verdammten, ist es heute mit weniger Befangenheit möglich, sein Talent neu zu entdecken - und dabei manchen Schatz zu heben. Seine Klavierkonzerte sind so ein Schatz. Aus ihnen spricht nicht nur der gefeierte und brillante Klaviervirtuose, der er war, sondern auch der fähige Komponist, für den die Grundlage der Komposition stets die Melodie war.
Die Klavierkonzerte entstammen völlig verschiedenen Schaffens- und Lebensperioden des Komponisten. Beim Hören ist insgesamt festzustellen, dass sich Reineckes Stil in den Jahren durchaus weiterentwickelt hat. Eines, das will ich vorwegnehmen, merkt man allen Konzerten und auch nahezu allen Werken Reineckes an: eine positive Grundstimmung.
Das erste Klavierkonzert, das er selbst immer für das gelungenste hielt, steht in der selten aufzufindenden Tonart fis-moll und war seinerzeit sehr populär. Die drei Sätze sind differenziert und für Solisten wie Orchester virtuos ausgearbeitet. Besonders interessant finde ich, wie im zweiten Satz dem Klavier der Konzertmeister und ein Solocello als fast gleichberechtigte Kontrahenten gegenübergestellt werden. Der dritte Satz mutet wie ein Rondo an, bei dem das Klavier ein kräftiges, eingängiges Thema ausbreitet und dieses anschließend immer wieder aufnimmt - diese Struktur findet sich auch im Finalsatz des zweiten Konzerts. Reineckes fis-moll-Konzert überzeugte mich erst beim zweiten Hören, dann aber um so mehr durch seine eingängigen Themen und die verschiedenen musikalischen Stimmungen. Die virtuose Gestaltung ist Orchester und Pianisten auf dieser Aufnahme ausnehmend gut gelungen.
Das zweite Klavierkonzert, e-moll, erreicht seine Eingängigkeit erst ganz zum Schluss. In ersten Satz sind die Themen noch sehr weit ausgebreitet, man klammert sich an die Stellen, an denen der Komponist sie wieder durchscheinen lässt. Dies führt dazu, dass man sich auf diesen Satz ernsthaft einlassen und dem dünnen roten Faden, den der Komponist gewebt hat, folgen muss. Belohnt wird man mit wunderbaren melodischen Einfällen und einem klugen Wechselspiel dieser Melodien zwischen Orchester und Soloinstrument. Der Ausdruck ist weniger dramatisch als schwärmerisch, aber auch nachdenklich. Hier leistet der Pianist phänomenale Arbeit, in dem er seine Stimme immer wieder kurz innehalten lässt, als müsse er über die nächste Phrase erst nachdenken. Ist der Hörer diesem Satz gefolgt, wird es ihm im zweiten Satz deutlich leichter gemacht. Hier ist eine atmosphärisch dichte Ausarbeitung der Kopfthemen zu vernehmen, bei der mal Orchester und mal Klavier das Thema vorantragen und die jeweils andere Stimme kontrapunktisch dagegen hält. Sehr angenehm finde ich, wie sich die Akteure hier zurücknehmen und den ruhigen Puls dieses Satzes herausarbeiten. Der dritte Satz schlägt, wie schon erwähnt, ein rondo-ähnliches Thema ein, das so eingängig ist, dass man es Stunden später noch im Ohr hat. Sehr angenehm finde ich auch hier nie erdrückende Spielweise des Orchesters, die stets elegant die Phrasen des Klaviers weiterspinnt oder neue dagegen setzt und damit hervorragend mit dem Klavierspiel von Klaus Hellwig harmoniert. Aufgrund der enorm großen musikalischen Bögen im ersten und dritten Satz halte ich dies für die musikalisch am schwierigsten zu interpretierende und wohl auch zu hörende Komposition auf dieser CD.
Mit dem dritten Konzert, C-Dur, gelingt Reinecke ein Werk mit festeren Strukturen und großen Spannungen. Insgesamt ist dies das dynamischste der vier Klavierkonzerte und wohl auch mein Favorit. Der erste Satz gewinnt eben durch diese Spannungen und die Dynamik außerordentlich viel Tiefe. Insbesondere wenn die elegante Leichtigkeit des Klaviers gegen die Dramatik des Orchesters anspielt, entsteht ein unheimlich dichtes und zugleich auch wieder angenehm transparentes Klangbild. Sehr reizvoll ist der Kontrast mit der beinahe symphonischen Ausarbeitung der Hauptthemen bei den Orchesterpassagen, wenn dieses die Melodien in Spannung und Dramatik aufbäumt. Das Eingangsthema des zweiten Satzes erinnert mich sehr an Reineckes Flötenkonzert. Es ist, ähnlich wie in den Mittelsätzen der anderen Konzerte, eine lyrische, melodiöse Ausarbeitung zwischen Klavier und Orchester, jedoch mit größerer Spannung. Hier fühle ich mich atmosphärisch sehr an Chopin erinnert. Der Finalsatz schließt inhaltlich an den Kopfsatz an, ist jedoch etwas geschäftiger und schneller und für den Pianisten auch virtuoser. Diesen Satz liebe ich insbesondere für die melodiösen Orchestereinwürfe, die sich immerfort aufbäumen und sofort wieder zurücknehmen, sodass die Grundstimmung des Satzes sich bis zum Schluss erhält. Durch seine dichte und atmosphärische Ausarbeitung überzeugt mich dieses Konzert auf ganzer Linie.
Mit Reineckes viertem und letzten Klavierkonzert, h-moll, das man wohl als Alterswerk bezeichnen kann, nimmt sich Reinicke deutlich zurück. Hier webt er weniger atmosphärische Teppiche als dass er Melodiefragmente kontrapunktisch gegeneinandersetzt. Ob dies ein Zugeständnis an die Mode innerhalb der Komponistenschaft dieser Zeit war oder bloß Altersmilde, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich ansprechen muss, ist, dass dem Hörer die in den vorherigen Klavierkonzerten so wunderbar herausgearbeitete Stimmung hier fehlen wird - und das liegt nicht an den Interpreten, sondern an der Komposition selbst. So ist auch diesem Konzert, insbesondere dem ersten Satz, wesentlich schwerer zu folgen als dies etwa noch beim C-Dur-Konzert der Fall ist. Der Effekt ist merkwürdig: durch die geringere Verdichtung im Orchesterpart geht die virtuose Klavierausarbeitung beinahe an sich selbst unter, es bleibt nichts im Ohr. Mit dem zweiten Satz macht Reinecke wieder Boden gut, dieser Satz ist nachdenklich und scheint nirgendwo recht hinführen zu wollen, ähnlich einer musikalischen Phantasie oder Improvisation. Hier ist es wieder der Pianist Klaus Hellwig, dessen Spiel vor einem stark zurückgenommenen Orchester durchweg überzeugt und dem Satz trotz dieser schwierigen Struktur Logik verleiht. Auch hier meine ich wieder, Chopin zu hören. Der dritte Satz beginnt mit für Reinecke befremdlicher, fast atonaler orchestraler Auftürmung, die das Klavier auf fast ironische Art „zerlegt“ und damit einen gelungen Übergang zum vorangegangenen Satz findet. Die folgende Ausarbeitung ist wieder melodiös und schwärmerisch und gewinnt dankenswerter Weise viel reineckesche Struktur zurück, wenn auch hier wieder die Sparsamkeit des ersten Satzes durchklingt. Die melodiösen Bögen und Phrasen in diesem Satz sind ein letzter Höhepunkt auf dieser CD.
Vermag ich mit diesen Ausführungen einen potenziellen Käufer zu überzeugen? Ich weiß es nicht. Vielleicht soviel als Fazit: die Nordwestdeutsche Philharmonie unter Alun Francis und der Pianist Klaus Hellwig holen zu hundert Prozent das aus den Werken, was der Komponist ausdrücken wollte. Und dieses Übereinstimmen von Komposition und Interpretation hinterlässt nach dem Hören ein sehr befriedigendes Gefühl. Ich empfehle diese im Übrigen auch technisch absolut überzeugende CD daher nicht nur dem Liebhaber von Klavierkonzerten an sich, sondern besonders demjenigen Hörer, der in der Musik nach Bestätigung sucht. Er findet grandios eingespielte Werke, in denen jemand immerfort mit dem Kopf zu nicken scheint.