Sicher NICHT Händel
Dem vorigen Rezensenten kann ich nur Recht geben: Das Werk stammt sicher nicht aus Händels Feder.
Aber der Reihe nach:
Das Textheft versucht mit wissenschaftlichem Anstrich daherzukommen: Der Fundort des Manuskripts, das nicht von Händel, sondern von einem unbekannten Kopisten angefertigt wurde, das Wasserzeichen, die Maße des Einbandes usw. - alles wird brav angegeben.
Die vermutete Entstehungszeit: Während Händels Italienaufenthalt 1706-1710.
Doch die entscheidende Behauptung, dass "Germanico" von Händel stamme, wird nicht verifiziert.
Auf Ähnlichkeiten bezüglich der instrumentalen Besetzung mit einigen frühen Händel-Werken wird hingewiesen, doch findet man diese auch bei anderen Komponisten der Zeit, wie z. B. Ariosti oder Bononcini.
Dies wird dann allen Ernstes überschrieben mit "Stilistischer Vergleich"!
Weiter heißt es: "Darüber hinaus gibt es zahllose melodische, harmonische und strukturelle Ähnlichkeiten mit seinen (Händels) anderen Werken, ohne dass wir bislang direkte oder umfangreiche Entlehnungen entdecken konnten" (S. 15). Immer daran denken: Man findet bei Händel oft ähnliche melodische und harmonische Modelle wie bei seinen Zeitgenossen, denn Händel war ein Komponist seiner Zeit. Hieraus lässt sich dann aber kein Indiz für die Echtheit eines Händel-Werks gewinnen. Wenn Händel die zeittypischen Modelle benutzt, dann entwickelt er sie allerdings in seiner für ihn typischen Art weiter, so dass sie in völlig neuem Licht erscheinen.
Beim Hören der Aufnahme merkt man den Abstand sehr deutlich:
1. Das kleingliedrige Ritornell der Arie "Felice parte" (Track 13) greift nach anfänglichen Imitationen ein Sequenzmodell auf, das sowohl von Händel als auch von anderen Komponisten der Zeit oft verwendet wurde. Nur würde Händel ein solches Modell im Laufe der Satzes zur Modulation nutzen und/oder es in mannigfaltiger Form weiterentwickeln: Hier wird es jedoch - mit Ausnahme seiner Wiederkehr in der Tonika am Ende des Mittelteils und im Schlussritornell - nicht wieder aufgegriffen geschweige denn weiterentwickelt. Stattdessen werden Continuo und Singstimme - neben freieren Passagen - vom kleingliedrigen Kopfmotiv des Ritornells geprägt. Als die Singstimme im A-Teil der Arie erstmals die Dominante erreicht, bringt sie danach erneut dasselbe Motiv wie zu Beginn - allerdings sofort wieder in der Tonika! Ein solches "Auf-der-Stelle-Treten" hätte sich Händel nicht erlaubt. Er hätte das Sequenzmodell zur Modulation genutzt oder wäre zumindest länger auf der Dominante verblieben, um dann das Material weiterzuentwickeln. Einen solch engen Horizont kann ich mir bei einer Arie von Händel, der Werke wie "Dixit Dominus" oder "La Resurrezione" in dieser Zeit schrieb, beim besten Willen nicht vorstellen.
2. Agrippinas Arie "Chi tanto t'adora" (Track 23) stammt aus Bononcinis "Il Trionfo di Camilla". Wer's nicht glaubt, möge hier nachsehen und vergleichen (Seite 27 im Dokument):
http://erato.uvt.nl/files/imglnks/usimg/f/f4/IMSLP57727-PMLP118555-Bononcini_Camilla.pdf
Vielleicht stellt sich ja alles als geschickt eingerichtetes Pasticcio aus verschiedenen Werken heraus.
3. Auf Seite 14 behauptet Tenerani, dass "Musik und Text (...) eindeutig (!) von ein und derselben Hand niedergeschrieben" worden seien. Auch die Autorenangabe "Del Sigr. Hendl" sei von diesem einen Kopisten geschrieben worden (vgl. Seite 16, Fußnote 1). Auf Seite 17 ist ein aber Ausschnitt der ersten Notenseite des Manuskripts abgebildet, der diese Behauptung zumindest zweifelhaft erscheinen lässt: Die Schriftzüge des Wortes "Andante" unterscheiden sich deutlich von denjenigen der Autorenangabe! Angesichts einer solch offensichtlichen Diskrepanz zwischen Behauptetem und Abgebildetem fällt es schwer, nicht wütend zu werden. Mich wundert, dass namhafte Wissenschaftler mit professorialem Titel, wie z. B. Anthony Hicks oder Donald Burrows bei der Beratung mitgewirkt haben sollen...
Fazit:
a) Die Musik ist insgesamt gesehen gefällig und an vielen Stellen durchaus inspiriert. Sie erreicht aber längst nicht die Höhe, die man von einem Komponisten vom Format eines Händel erwarten darf.
b) Es sieht alles sehr wissenschaftlich aus, ist aber in Wahrheit nur Werbung mit dem großen Namen "Georg Friedrich Händel". Und was Werbung mit Wahrheit zu tun hat, weiß ja ein jedes Kind...