Fritz Brun – die längst überfällige Entdeckungsreise zu einem Großen Unbekannten
1927 schreibt August Halm („Beethoven und die Gegenwart“) etwas, wodurch die Bemerkung Adrianos in seiner vorbildlichen Werkeinführung über Fritz Bruns „Eklektizismus“ ins rechte Licht gerückt wird: Die Zeit sei gekennzeichnet durch den „Zerfall des Publikums, der öffentlichen Meinung, und er geht schon aus der erwähnten Tatsache hervor, daß es kein wenn auch noch so oberflächliches gemeinsames Urteil, keine gemeinsame Einstellung mehr gibt“. Diese Hindeutung auf den Verlust einer verbindlichen Tradition besagt, dass „Eklektizismus“ als Stileigenschaft von Brun im positiven Sinne als der Weg zu verstehen ist, sich in der Überkreuzung verschiedener Traditionslinien zu positionieren und etwas Neues zu schaffen und damit einen Stil, der weder bloß epigonal ist noch „revolutionär“, vielmehr der Versuch, eine (unverwechselbare) Individualsprache von Symphonik zu schaffen im besten Sinne, ein Komponieren, dass auf die Ambition verzichtet die Schönberg etwa hatte, Musikgeschichte zu schreiben. (Schönberg meinte ja bekanntlich, mit seiner Zwölftonmusik sei die Vorherrschaft deutscher Musik für das nächste Jahrtausend gesichert.) Deutlich wird das etwa aus Bruns Brief an Herrmann Scherchen über seine 5. Symphonie: „Meine fünfte Symphonie ist die problematischste von allen. Sie erfordert viel Proben, einen intelligenten Dirigenten und ein intelligentes, schweizerisches Publikum! In der Fünften spürte ich den Drang nach kammermusikalischer Auflockerung. Sie war mir ein elementares Bedürfnis; intensive Beschäftigung mit den Alterswerken Beethovens drängten mich auf diese Bahn. Ich beschäftigte mich auch mit dem Problem der atonalen Auflockerung. Ich stehe ihr feindlich gegenüber, wenn sie sinnlos, phantasielos dem Schreiben einer öden Papiermusik verfällt, sie fesselt mich in hohem Grade, wenn sich Köpfe wie Strawinsky und Schoeck mit ihr befassen.“ Man sieht aus dieser Bemerkung, dass Brun keineswegs nur ein Brahms-Epigone und rückwärts gewandter und von allen Entwicklungen der musikalischen Moderne sich abschottender „Konservativer“ ist und also auch nicht spätromantischen Schwulst komponiert, sich vielmehr überhaupt nicht sicher in irgendeiner Brahms-, Bruckner oder sonstigen Tradition aufgehoben weiß. Solche Urteile eines Rezensenten sind nicht nur völlig verfehlt, sie zeugen schlicht von mangelnder, ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Symphoniker Brun, seiner „eklektischen“ Individualität und nicht zuletzt fehlender Unvorgenommenheit, einfach hinzuhören auf das, was man tatsächlich hört.
Sinn einer Rezension sind feilich nicht gelehrte Erklärungen, sondern sie sollte „Lust“ wecken, sich auf das Hörabenteuer einer solchen Neuentdeckung einzulassen. Und dazu kann ich nur ermuntern! Schon beim ersten Hereinhören in die 1. Symphonie hat mich die Selbstverständlichkeit beeindruckt und die Fähigkeit der Musik, für sich selbst zu sprechen. Da zeigt sich Brun als ein „geborener“ Symphoniker, der eine Musiksprache findet, wo man eben nicht daran denkt: Inwieweit ist das jetzt noch Brahms oder schon Brun? Die Symphonie ist einfach schön, erzählt eine Geschichte, die man so erzählt noch nie gehört hat. Und jede der Symphonien ist eine Welt für sich. So die hochoriginelle 5. mit ihrem „Wut“-Satz. Sehr einnehmend für mich ist auch die heitere 9. Das ist Programmmusik – aber wie anders als etwa Richard Strauss: Bruns individueller, ganz und gar unheroischer Stil ist durchsichtiger, klarer, schlichter, hat nicht diesen hochtrabenden Gestus, das Allzu-Persönliche zum Bedeutungsvoll-Erhabenen aufzublähen wie Strauss´ "Ein Heldenleben". Diese Musik hat zudem eine Komplexität, die sich beim einmaligen Hören nur erahnen lässt und zum Wiederhören einlädt. Hoch zu loben ist auch, dass die Edition Einblick gibt in die Komplexität von Bruns Schaffen: Dabei ist eine hochinteressante Symphonische Dichtung „Aus dem Buch Hiob“, sowie ein attraktives Divertimento für Klavier und Streicher, das mir besonders gefallen hat – wie auch die sehr hörenswerten Lieder in der Orchesterfassung. Brun orchestrierte drei Lieder für Altstimme von Othmar Schoeck, Adriano fünf Brun-Lieder für Alt für Streichsechstett. Und wie ist die Aufnahmequalität? In jeder Hinsicht hervorragend! Das gilt nicht nur für die tontechnische Seite der Aufnahme, sondern auch für die Musiker: Die beiden Orchester aus Moskau und Bratislava spielen auf sehr hohem Niveau – mit hörbar liebevollem Engagement. Und Adrianos Dirigat kann man nur in jeder Hinsicht loben: Uneitel, fachkundig sich in den Dienst der Musik stellend mit der seltenen Fähigkeit, Durchsichtigkeit und Ausdrucksintensität in einer immer ausgewogenen Balance zu halten. Als Bonus – für den historischen Vergleich – enthält die Box historische Aufnahmen von 1948 – die von Fritz Brun selbst dirigierte Symphonie Nr. 8 sowie die Variationen für Streichorchester und Klavier, gespielt von Adrian Aeschbacher. Der Dirigent ist Paul Sacher. Für mich ist die Box die wichtigste – und schönste – musikalische Neuentdeckung seit der eines anderen großen Unbekannten: Allan Pettersson.