Runde Sache
Wenn man den akustischen Einstieg in die symphonische Welt Dmitri Schostakowitschs sucht, stößt man wohl zwangsläufig auf diese Gesamtaufnahme, die derzeit so lächerlich billig angeboten wird, dass es sich kaum lohnt, vorher eine günstige Einzel-CD zum Kennenlernen zu erwerben. Konkurrenz im preislichen Low-Budget-Segment ist nur die Gesamtaufnahme mit Rudolf Barschai. Es ist schon bemerkenswert, was man in beiden Fällen für sein Geld geboten bekommt.
Mariss Jansons, dessen Zugang ich bei anderen Komponisten bisweilen als ziemlich konservativ und zu wenig risikofreudig erlebe, findet bei diesen Werken zu einer meines Erachtens beachtlichen Balance aus leidenschaftlichem Zugriff, Akribie im Detail und Überblick über die große Linie. Seine Tempi sind im Durchschnitt zügig. Sie sind nicht so rasant wie einst bei Kirill Kondraschin oder auch in vielen Aufnahmen Ewgeni Mrawinskis, aber bewegen sich in dieser Richtung. Jansons geht zudem tempo-agogisch gerade im Vergleich zu seinen in dieser Hinsicht in ihren jüngeren Schostakowitsch-Beiträgen mit westdeutschen Klangkörpern teils erstaunlich abstinenten Kollegen wie Dmitri Kitajenko, Roman Kofman oder eben Rudolf Barschai angenehm freizügig an die Werke heran, variiert, bleibt flexibel, ohne den interpretatorischen Bogen zu überspannen.
Bezogen auf die Detailliertheit seiner Darstellung gibt es aus meiner Erfahrung wenige Aufnahmen, zudem im Gesamtpaket, bei denen man so viel an Entwicklungen auch in den Nebenstimmen verfolgen kann, nur bei Kitajenko kann man alles noch deutlicher unter die Lupe nehmen. Aber auch bei Jansons ist das alles bestens ausgehört, zudem werden die Werke unabhängig vom Orchester durch starke individuelle Leistungen äußerst farbig dargestellt. Es überzeugen aber vor allem die spürbare Energie, der klar erkennbare Gestaltungswille und der Mut zum Forcieren, wo es angebracht scheint, zwar nicht im Maße eines Kondraschin oder auch eines Mrawinski, in seinen alten Einspielungen auch eines Temirkanov, aber doch in für mich deutlichem Abstand zur teilweisen Reserviertheit Barschais oder Kofmans.
Die einzelnen Interpretationen sprechen mich fast durch die Bank sehr an. Über Vor- und Nachteile der Wahl unterschiedlicher Klangkörper und Aufnahmeorte kann man sicher streiten, Langeweile stellt sich jedenfalls hier nicht ein. Zum großen Teil finde ich die Ergebnisse herausragend, ohnehin im Vergleich mit neueren Einspielungen, aber zum Teil auch auf Augenhöhe mit meinen persönlichen Schostakowitsch-Ikonen.
Meine Favoriten hier sind die Aufnahmen der Symphonien
Nr. 1 (Berliner Philharmoniker, eingespielt in der Berliner Philharmonie 1994, farbig, spritzig, starke Akzente),
Nr. 5 (1997 live im Musikvereinssaal mit den Wiener Philharmonikern eingespielt, extrem intensiv, berührend, starke, beeindruckende Steigerungen, atmosphärische Dichte und ein wirklich fabelhafter Orchesterklang),
Nr. 6 (mit den Osloer Philharmonikern 1991 im Osloer Konzerthaus eingespielt, aus meiner Sicht eine der überzeugendsten neueren Deutungen neben der neuen Einspielung von Juri Temirkanow, in den Tempi schnell, in den großen Steigerungen im Largo intensiv, in den schnellen Sätzen mit Biss und Drive),
Nr. 7 (sinnfällig mit den St. Petersburger Philharmonikern 1988 in Oslo aufgezeichnet, im Vergleich zum Orchester-Sound der ehemaligen Leningrader Philharmoniker unter Mrawinski schon deutlich "kultivierter", aber immer noch sehr charakteristisch, interpretatorisch gleichfalls zügig, flexibel und beeindruckend kraftvoll),
Nr. 8 (entstanden 2001 in der Heinz Hall in Pittsburgh mit dem dortigen Symphonieorchester, auch hier Kraft, Intensität, Gespür für Einzelheiten und Linie, zudem mit einem Bonustrack mit Probenausschnitten Jansons' mit den Pittsburghern),
Nr. 9 (auch von 1991 mit den Osloern in Oslo aufgenommen, bissig, ironisch, flink, also genau angemessen),
Nr. 14 (die letzte Aufnahme aus dem Zyklus, 2005 im Herkulessaal der Münchner Residenz mit dem Symphonieorchester des BR aufgenommen, das ungeheuer präzise und beteiligt dabei ist und die Solisten Larissa Gogolewskaja und Sergej Aleksaschkin, der mich hier deutlich mehr überzeugt als in der Nr. 13, fabelhaft unterstützt) und die
Nr. 15 (aufgenommen mit dem London Philharmonic im Abbey Road Studio in London; auch hier wieder eine geglückte Synthese aus Präzision, Begeisterung für das Werk, Energie und großartigem Orchesterklang).
Am wenigsten überzeugt mich wegen des Bass-Solisten die Nr. 13, wenngleich das SO und der Chor des BR auch hier ausgezeichnet disponiert sind. Die Symphonien Nr. 10 und Nr. 11, die mit dem Philadelphia Orchestra 1994 bzw. 1996 in Philadelphia aufgenommen wurden, kommen wir klanglich zu weich, zu wenig konturiert vor, was sich auch auf den interpretatorischen Eindruck auswirkt, obwohl ich die grundsätzlichen Qualitäten von Jansons' Ansatz auch hier wahrnehme. Die Symphonien Nr. 2 bis 4 und 12, alle mit dem SO des BR und im Falle der Symphonien 2 und 3 mit dem hervorragenden Chor dieses Senders zwischen 2004 und 2005 aufgenommen, bewegen sich für meine Begriffe auf sehr hohem Niveau.
Die Aufnahmequalität schwankt wie gesagt abhängig vom Aufnahmeort, aber alles in allem kann man, so finde ich, bei ausgezeichneter Transparenz, Tiefenschärfe, Dynamik und Kraft bis in tiefste und höchste Register nicht klagen. Für eine "Low-Budget"-Ausgabe wie diese ist es höchst erfreulich, dass die Aufnahmedaten vollständig aufgeführt sind, ein kurzer, aber instruktiver Einführungstext und zudem ein Interview mit Mariss Jansons im Booklet zur Verfügung stehen und dass die Texte der Vokalpassagen viersprachig (die russische Version dabei in lateinischer Umschrift) abgedruckt sind. Da zudem die CDs in recht liebevoll gestalteten Einzel-Papphüllen stecken und das ganze in einem soliden Karton untergebracht ist, eignet sich diese Box sogar als Geschenk.
Für meine Begriffe kann man bei dieser Gesamteinspielung hier bedenkenlos zugreifen und wird selbst als Sammler, der schon eine oder mehr andere Gesamtaufnahmen besitzt, kaum enttäuscht sein.