Von höchstem Rang
Kurt Sanderling war langjähriger Co-Chef von Jewgeni Mrawinski im damaligen Leningrad und mit Dmitri Schostakowitsch bekannt. Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre nahm er mit dem Berliner Sinfonie-Orchester, das er maßgeblich zu einem homogenen Spitzenorchester geformt hatte, sechs der Symphonien Schostakowitschs unter Studiobedingungen in der Christuskirche in Berlin auf.
Bei allen Aufnahmen kann man über großartige Solo-Leistungen, einen satten Streicherklang, zumal in den tiefen Registern, ja, über ein eigenes Timbre geradezu ins Schwärmen geraten. Das Berliner Sinfonie-Orchester, heute das Konzerthaus-Orchester, spielt in allen Gruppen hörbar an der vorderen Stuhlkante, äußerst beteiligt.
Alle Aufnahmen erfreuen klangtechnisch mit einem breiten Panorama, starker Dynamik, voluminösem Bassfundament und sehr guter Transparenz.
Erfreulich instruktiv sind die abgedruckten Interviews mit Sanderling zu den einzelnen Werken; sie finden sich in den Beiheften der in dieser Box versammelten Einzel-CDs.
CD 1: Symphonien 1 und 6. Bei der ersten Symphonie hat mich Sanderling mit seiner Ernsthaftigkeit überrascht, die er diesem Werk verleiht, das oft eher als jugendlich frische Virtuosenschau präsentiert wird. Manche Passagen etwa im vergleichsweise langsam genommenen Kopfsatz oder im Largo habe ich kaum je in dieser Tiefe vorgetragen gehört, hier lässt Sanderling bereits den späteren, reifen Schostakowitsch durchklingen. Eine ungewöhnliche, lohnende Auffassung.
Im großen einleitenden Largo der Symphonie Nr. 6 überzeugt insbesondere die Tempowahl, die den klagend-fatalistischen Tenor dieses Satzes eindrucksvoll zur Geltung bringt. Sanderling lässt den gewaltigen, schmerzhaften Steigerungen genügend Raum, bringt sie klar, direkt, ungeschönt an den Hörer. Hervorragend die Holzbläser, die in den fahlen, kargen Passagen eine ungeheure atmosphärische Dichte schaffen. Das alles gelingt dabei, ohne den Fluss der Musik verebben zu lassen.
Einen in dieser Hinsicht extremen Ansatz verfolgte ja Kirill Kondraschin, der diesen Satz, für den der Durchschnitt der Dirigenten knapp zwanzig Minuten benötigt, in dreizehn Minuten durcheilt, extrem intensiv, aber vielleicht in diesem speziellen Fall übers Ziel hinaus.
In den schnellen Sätzen der Nr. 6 gelingt es Sanderling, Schärfe und Bedrohlichkeit innerhalb des vermeintlichen Frohsinns zu demonstrieren, die Doppelbödigkeit zur Geltung bringen, wo andere, ich denke an Bernstein mit den Wiener Philharmonikern, es bei einer rein äußerlichen Steigerung belassen.
Bei diesen beiden Sätzen finde ich persönlich Kondraschin in seiner Extremsicht noch überzeugender, aber Sanderling kommt dessen Interpretation nahe, auch im Tempo, und das heißt einiges.
Eine überragende, existenzialistische Deutung bietet alternativ (in schlechterer Aufnahmequalität) Jewgeni Mrawinski in einer Live-Aufzeichung von 1972.
Im Gesamtergebnis ist das eine wirklich großartige Umsetzung, die voll befriedigt, für meine Begriffe mehr als Petrenko, mehr als Barschai, letztlich auch mehr als die ganz hervorragend aufgenommene Einspielung mit Boult.
CD 2: Symphonie Nr. 5. Sanderlings Zugang ist auch bei Symphonie Nr. 5 umsichtig, gelassen und unaufdringlich, dennoch von einer ungeheuren inneren Spannung gekennzeichnet. Er liegt im Falle der Fünften für mein Empfinden nahe an der Sicht Jewgeni Mrawinskis, der das Werk über die Jahre seines Wirkens auch mehrfach einspielte und in den Deutungen, die mir bekannt sind, die Entwicklungen des Werks weniger forciert darstellte als der quasi unter Dauerstrom stehende und darin sehr suggestive Kirill Kondraschin. Trotzdem kommen auch bei Sanderling Trauer, Verstörtheit und Verzweiflung im großen Kopfsatz expressiv zur Geltung, dessen Klimax fulminant umgesetzt wird.
Die vermeintlich burlesken Grimassen des Allegretto erhalten unter Sanderling ein gerüttelt Maß an Doppelbödigkeit und Boshaftigkeit, die Abgründe der Trauer im Largo empfinde ich zumal in gut klingenden neueren Aufnahmen kaum je so schmerzhaft wie bei Sanderling, die beiden großen Steigerungen dieses Satzes sind unter Sanderlings Dirigat wie ich sie mir wünsche: kaum erträglich.
Das Finale beginnt Sanderling ungewöhnlich stürmisch, hierdurch kommt die Stretta zu Beginn vielleicht ein wenig zu kurz. Den langsamen, eindringlichen Mittelteil und den falschen Finaljubel stellt er zwingend dar.
Alles in allem ist das auch dank einer großartigen Leistung des Berliner Sinfonie-Orchesters ein großer Wurf, eine äußerst gelungene Deutung einer großen Symphonie, die neben den singulären Interpretationen Mrawinskis, Kondraschins und Mitropoulos' (in der Membran-Box) für meine Begriffe bestehen kann und moderne Konkurrenz nicht fürchten muss.
CD 3: Symphonie Nr. 8. Die Stärken Sanderlings liegen auch bei Schostakowitschs Nr. 8 für mein Empfinden in der glaubwürdigen Erfassung der Satzcharaktere, ob das nun die ausgedehnte Klage des Adagios ist, die Fanfaren-Groteske des Allegrettos, die Gewalttätigkeit des dritten Satzes, die dunkle Bedrohlichkeit des Largos oder die nur vermeintliche Gelöstheit des finalen Allegrettos. Die gewaltigen Steigerungen zumal in Kopfsatz und Finale werden mit präzisem Timing aufgebaut, Wucht, Dramatik, Klangmassen kommen ebenso zur Geltung wie die introvertierten Passagen mit teils wunderbar ausgehörten Holzbläsersoli. Das klingt bei aller Präzision auch im Detail im Ergebnis ungeheuer organisch, "richtig".
Die Intensität dieser Aufnahme überzeugt mich auf ihre Weise nicht weniger als der Starkstrom Kondraschins oder die authentische Vehemenz der Schostakowitsch-Autorität Jewgeni Mrawinkis, Dirigenten jener zwei Aufnahmen, die ich bei der Achten jedem Schostakowitsch-Enthusiasten dringend ans Herz legen möchte. Sanderlings Einspielung klingt allerdings deutlich besser.
Gleichfalls beachtliche moderne und gut klingende Alternativen bieten noch Wassili Petrenko und insbesondere Dmitri Kitajenko.
CD 4: Symphonie Nr. 10. Von dem Dutzend Einspielungen, das ich mittlerweile kenne, gefällt mir aufnahmetechnisch Sanderlings Version mit ihrer Präsenz, ihrer Klarheit, ihrer Wärme und ihrer beeindruckenden Tiefensubstanz am besten, besser natürlich als die historische, insbesondere - interpretatorisch höchstrangige - sowjetische Konkurrenz, besser aber auch als der späte Karajan, als Petrenko, Shipway, Rattle, Barschai oder Jansons.
Zudem besticht Sanderling wieder mit seiner ungewöhnlichen Mischung aus einem gleichzeitig unprätentiösen und intensiven Ansatz. Er treibt sein Berliner Orchester im Scherzo und im Finale nicht zu Temporekorden wie einst Mitropoulos, zeichnet bestimmte Passagen, etwa die Klimax im dritten Satz, nicht so drastisch wie Mrawinski, geht interpretatorisch nicht so oft an die Grenzen wie der extrem dramatische Kondraschin, aber dennoch wirkt das alles authentisch und ehrlich. Markante Akzente, wunderbar dunkel abgetönte Holzbläser-Soli im Kopfsatz, trotz eines moderaten Tempos im Scherzo eine überaus bedrohliche, eindringliche Dichte, eine fulminante, ja bezwingende Steigerung im Kopfsatz. Man merkt letztlich in jedem Takt die Vertrautheit des Schostakowitsch-Freundes Sanderling mit dessen Idiom.
CD 5: Symphonie Nr. 15. Vielleicht ist diese Fünfzehnte sogar die stärkste Aufnahme in Sanderlings leider unvollständigem Schostakowitsch-Zyklus. Er bringt die Stimmungen dieses rätselhaften Werkes neben aller Klarheit im Detail mitreißend plastisch an den Hörer, zieht ihn hinein in die aufgesetzte "Spielzeugladen"-Fröhlichkeit des ersten Satzes, in die beklemmende, bedrohliche Dunkelheit des Adagios, fordert auf zu einem grotesken Tanz im Allegretto und gestaltet den langen, über weite Strecken sparsam gesetzten Abschied des Finalsatzes in einer phänomenalen atmosphärischen Dichte. Die Klimax in der Mitte des Satzes ist schlicht erschütternd.
All dies ist abermals von einer gewissermaßen unforcierten, unprätentiösen, aber doch unglaublich intensiven und spannenden Eindringlichkeit, die einen nicht mehr loslässt.
Auch Rudolf Barschais Version in seiner Kölner Gesamtaufnahme und Kondraschins wieder etwas drastischere Deutung sind hörenswert.
Diese Aufnahmen helfen aus meiner Sicht nicht nur Einsteigern, einen Zugang zu dieser wunderbaren Musik zu finden, sondern bieten auch Kennern und Liebhabern eine ergiebige Fundgrube an bemerkenswerten, eindringlichen, authentischen und klanglich hervorragenden Interpretationen.
Es ist unverständlich und höchst bedauerlich, dass Kurt Sanderling nicht mehr Symphonien Schostakowitschs eingespielt hat.