Einzigartiges Kunstwerk
Ausgerechnet E.S.P. war nach zwei Electric-Alben mein erstes Acoustic Jazz Album von Miles. Und die Verwunderung konnte kaum grösser sein, denn für jemanden, der Bebop schon kannte, aber sonst wenig mehr, stellte sich die Frage – was ist das denn? Ein Blick auf den Titel der LP hätte vielleicht geholfen. E.S.P. im Sinne von „übersinnliche Wahrnehmung“ kommt der Stimmung der LP schon nahe, denn hier präsentiert Miles eine Musik, die man nicht nur mit dem Gehörsinn und dem Intellekt erfassen muss, sondern mit allen Sinnen.
Aber erst noch ein Blick auf das Cover: Miles im Liegestuhl schaut zu seiner neben ihm stehenden, in die Kamera blickenden Frau Frances auf, hat sich den rechten Zeigefinger an die Lippen gelegt und scheint sich zu überlegen, was in ihr vorgeht. Das Backcover - keine Liner-Notes, wie sonst damals noch oft üblich, sondern ein Gedicht von R.J. Gleason, das nur aus Alben- und Song-Titeln bestand, die Miles aufgenommen hatte. Surreal. Was erwarten Sie nun von der Musik dieses Albums ? Sicher keinen Hardbop, dann greifen Sie besser zu Workin, Cookin und Steamin.
E.S.P. enthält drei schnelle Stücke (E.S.P., R.J. und Agitation) drei langsame Titel in 3/4 und den Blues "Eighty-One", der zwischen Rock und Swing-Rhythmus wechselt, mithin eine sehr frühe Fusion-Nummer.
Die Harmoniefolge des Titelstücks verschiebt sich in Halbtonschritten (Fis-G-Fis-F-E-F-Fis-G), während sich die Melodie in Quarten (c-g-d-g-c-g-d-c-g) wellenförmig darüber bewegt. Mehr als diese drei Töne werden in den ersten vier Takten nicht gebraucht, danach wird die Sache variiert und in den letzten vier Takten mit einer Durchgangs-Akkordfolge abgeschlossen, wobei die 32-taktige Form in 12+4 plus12+4 Takte zerlegt wird, bei denen die 12 identisch sind, die zweiten 4 Takte jedoch anders als die ersten 4. Der zugrundegelegte Fis-7 #5#9 - Akkord ist eine Einladung zur Improvisation über Ganz-Ton-Skalen. Miles hatte es damals satt, über Akkorde zu improvisieren, den modalen Jazz hatte er aber auch schon ausgereizt. Der Trick besteht dann darin, eine Akkordfolge zu spielen, über die der Solist ziemlich frei in einer Skala improvisieren kann, nur am Ende des Chorus muss er zeigen, dass er noch weiß, wo die Band sich gerade befindet.
R.J. von Ron Carter (nicht nach Gleason, sondern nach Carters Sohn benannt), ein kurzes Stück (3:56), bei dem Tenorsax und Bass das 20-taktige Thema unisono spielen. Danach kommen die Soli über die gleichen Harmonien, allerdings nur über 19 Takte, einer wurde mittendrin weggelassen. Very tough! Jedesmal wenn der Chorus zuende geht, glaubt man einen Tritt zu bekommen, um noch schneller weiterzuspielen.
Das schnelle Agitation beginnt mit einem 2-minütigen Drumsolo Marke Tony Williams - aber das ist was ganz anderes als Philly Joe oder Blakey, so etwas hat vor Tony niemand gespielt. Miles setzt mit gedämpfter Trompete über einen Pedalpoint in hoher Lage von Carters Bass ein. Der Bass beginnt in hohem Tempo zu laufen, unterbricht sich aber durch einen rhythmischen Tritonusriff, läuft wieder und spielt auf einmal nur noch halb so schnell, spielt wieder den Pedalpoint und so weiter bis nach allen Soli das Thema wiederholt wird und der Bass alleine eine 20-sekündige Coda spielt - genial - die drums fingen das Stück an, der Bass beendet es. Bei den Rhythmus- und Tempiwechseln in diesem Stück hat man den Eindruck, dass die Musiker telepathisch kommunizieren.
Bleiben noch die drei Stücke im Walzer-Takt und sie sind das wahrhaftig "übersinnliche" an E.S.P. Das Thema von Little One wird rubato gespielt, erst mit den Soli geht das Stück in 3/4 über. Der Rhythmus ist schwebend, die Stimmung melancholisch, vom Schlagzeug fast nur das Ride-Becken zu hören.
Iris ist eine wunderschöne Shorter-Ballade in 3/4. Wayne spielt die Melodie alleine, bis Miles übernimmt und ein unbeschreibliches Solo spielt. Wieder diese romantisch-melancholisch-schwebende Atmosphäre.
Schliesslich noch Mood von Ron Carter. Auf seiner LP Uptown conversation hat er das Stück 1969 auch aufgenommen, dort aber in Doom umbenannt - Mood rückwärts. Was genau die traurige Stimmung dieses Stückes beschreibt, es klingt düster, schicksalhaft, einsam, aber doch beruhigend. Eine 13-taktige Form in 3/4. Klavierakkorde auf der 1 und ein Bass der nur auf der "2-und" und der "3" spielt mit dem Grundton auf der 3. Eine Melodie hat das Stück nicht, Miles mit Harmon-Mute (Dämpfer) setzt in den zweiten 13 Taken ein und spielt zwar eine sehr hübsche Melodie, aber das ist schon der erste Chorus seines Solos. Alles sehr geheimnisvoll. Nach 8:50, die einem wie vielleicht 3 oder 4 Minuten vorkamen ist dieses Meisterwerk vorbei und man weiß gar nicht so recht, was überhaupt passiert ist. Man könnte sich das Stück eine halbe Stunde lang anhören.
Bob Belden meint in seinem Kommentar zur CD-Ausgabe von 1998: "Die Musik war allem anderen, was vorher veröffentlicht wurde, um Lichtjahre voraus".
Für diese Rezension wurde verfügbares Notenmaterial benutzt, um anzudeuten, was technisch hinter E.S.P. steckt. Das Album erscheint "offen und frei", ist es aber nicht, das ist die Kunst dahinter. Die Gruppe der fünf Musiker hat hier Schätze geschaffen, die eher mit impressionistischen Gemälden vergleichbar sind, als mit klassischen Jazz-Standards.