Der unbekannte Meyerbeer
Das Interesse an den Opern Giacomo Meyerbeers hat in den letzten Jahren spürbar zugenommen, was höchst erfreulich ist. Immerhin war er der erfolgreichste Opernkomponist des 19. Jahrhunderts und gilt als der Meister der Grand Opéra. Im Februar 2020 hat die Deutsche Oper Berlin die vor einigen Jahren neu inszenierten Produktionen von "Le prophète", "Les huguenots" und "Dinorah" (leider nur konzertant) wieder in den Spielplan aufgenommen.
So gut wie unbekannt sind hingegen Meyerbeers Vertonungen religiöser Texte, diese Lücke beginnt sich nun erfreulicher Weise zu schließen. Die Berlinerin Andrea Chudak engagiert sich seit etlichen Jahren für die Liedkompositionen Giacomo Meyerbeers, und ihre erste CD mit Liedern und Romanzen (in der Ediion Antes erschienen) wurde von der nationalen wie internationalen Kritik mit großer Begeisterung rezensiert.
Nun legt sie Einspielungen religiöser Kompositionen des polyglotten und kosmopolitischen Giacomo Meyerbeers vor, und das Ergebnis kann sich hören lassen. Wer sich zumindest ein wenig mit der Biographie Meyerbeers beschäftigt, wird wissen, dass Meyerbeer ein zutiefst gläubiger Mensch war; zeitlebens blieb er seiner angestammten Religion verbunden, was ihn aber nicht daran hinderte, ein innerlich liberaler Freigeist zu sein. Dies spiegelt sich in den Textvorlagen der Aufnahmen wider: pantheistische Ansätze in der Hymne "An Gott", kindliche Naivität und Gottvertrauen in den "Religiösen Gedichten", Psalmenvertonungen, katholische Mystik des Mittelalters, explizit christliche Texte bis hin zu einer höchst individuellen Vertonung des "Pater noster" aus dem Jahre 1857.
Dario Salvi hat die Originalpartituren für Streichorchester, Klavier und Sopran arrangiert/bearbeitet. Über solche "Eingriffe" lassen sich natürlich Argumente für und wider vortragen, doch ist es m. E. Salvi gelungen, die Grundstimmungen der Kompositionen mittels seiner Bearbeitungen nicht anzugreifen. Die "Neue Preußische Philharmonie" folgt ihm dabei mit großem Engagement.
Meyerbeers Psalmenvertonungen (gewählte Ausschnitte des 124. und 86. Psalms) entstanden zum größten Teil während seiner Studienzeit bei Georg Joseph Vogler in Darmstadt und kamen erfolgreich in Mannheim und in Berlin zur Aufführung. Sie lassen bereits Meyerbeers dramatisches Gespür erahnen, und Andrea Chudak weiß damit sehr einfühlsam umzugehen, oder, um es anders auszudrücken: sie findet für jede Komposition einen angemessenen wie würdigen Tonfall.
Den größten Eindruck hinterlässt sie besonders in der "L'Imitation de Jésus-Christ" und im bereits erwähnten "Pater noster". Eine wirkliche Sensation ist das wieder entdeckte Prélude für Harmonium oder Orgel zur "L'Imitation", das dann nahtlos in das erste Rezitativ übergeht. Ein typischer Meyerbeer mit chromatischen Passagen und Akkordrückungen. Die innere Aufruhr und Verzweiflung, die von Meyerbeer intendierte melancholische Stimmung, die in den drei Rezitativen des Werkes herrscht, trifft sie punktgenau, und die ruhigeren Passagen, gemäß des Textes, gestaltet Andrea Chudak mit fließender Innigkeit. Unübertrefflich ihre Interpretation des "Pater noster". Hier nimmt sie gerade die von Meyerbeer geforderten dynamischen Vorgaben (das Begleitheft weist ausdrücklich darauf hin, die Dynamik sei laut Meyerbeer "markig" zu gestalten) mehr als nur ernst, ohne dabei manieriert zu wirken, so als würde sie den Text während des Singens wirklich beten.
Wer sich für Meyerbeer interessiert, kommt an dieser Aufnahme nicht vorbei. Unbedingt empfehlenswert!