„Ein Magnifikat für Klavier“ - Meilenstein der Bach Rezeption
96 Stücke oder 48 Paare an Präludien und Fugen umfasst der Riesenkosmos von Bachs Wohltemperiertem Klavier, von einigen als das „Alte Testament“ der Musik oder „Enzyklopädie des Bachschen Universums“ bezeichnet.
Wie bei den von ihr zitierten Vorbildern Rosalyn Tureck, Samuil Feinberg, András Schiff oder Evgeni Koroliov geht es Ugorskaja weniger um ein übergeordnetes klangliches Konzept, sondern um die Freiheit in der Darstellung des Reichtums an Dramaturgie und Formphantasie, die Variabilität der einzelnen Präludien und Fugen in Rhythmus, in der Dynamik und der Tempowahl. Ugorskaja ergründet mit Wissen um die Aufführungsgeschichte und Einfühlung das Unverwechselbare jeder Eigenheit der polyphonen Kompositionen, sie steigt dabei sozusagen in ihren persönlichen Urgrund. Da geht es überhaupt nicht um Wirkung oder Spektakel. Mit ihrem femininen Ansatz, der auch auffallend zurückhaltende, dafür umso kontrastreichere Ergebnisse erzielen kann, gleicht die Durchwanderung der beiden Teile des WTKs einer meditativ existenziellen Übung.
Die leisen Töne überwiegen, klangliche Nuancen und moderate Tempi sind Marke und wichtiger als maschinelle Geschwindigkeitsrekorde oder die apodiktische Behauptung des (End)Gültigen. Die Wahrheit ersteht dabei aus den Relationen zueinander, der „inneren Logik“, oder wie Ugorskaja das selbst beschreibt, aus der Verschmelzung der strengen Form mit einer musikalischen Botschaft. Ugorskaja ist hier der Auffassung von Celibidache ziemlich nahe, der ja auch die Tempi aus der Raum-Zeitrelation und vom imaginierten Ende des Stücks her ableitete, inwieweit sie dem Hören und Empfinden zuträglich sind. Ugorskajas Vortrag speist sich aus der Rhetorik, „der Aufbau eines Themas, seine Kürze oder Länge, die Wahl (tragende Rolle) der Intervalle, die ihnen innewohnende Spannung, ihre Symbolik, ob das Thema durchgängig ist oder Pausen einbegreift und wie diese platziert sind, ob es aufsteigt oder abfällt oder sich im Kreis dreht.“
Zur Instrumentenwahl (ein moderner Steinway) meint die Pianistin: „Das WTK wurde für ein Tasteninstrument geschrieben, doch es ist viel mehr als Musik für ein Instrument. Es klingt paradox, aber in einem übergeordnetem Sinn ist es egal, auf welchem Instrument das WTK gespielt wird. Ein moderner Flügel bietet eine schier unerschöpfliche Fülle klanglicher Möglichkeiten, an der Farbe, der Dynamik und der Artikulation zu arbeiten. Es geht um Kantabilität, die Kunst, die Mehrstimmigkeit auf dem Klavier wie in einer Motette zu realisieren: alle Stimmen müssen gesungen bzw. gesprochen werden. Cantus - cantabile. Zu Bachs Zeit gehörte die Rhetorik zur Ausbildung eines Musikers, sie war eine der sieben artes liberales. Insofern spielen die nicht manifesten, aber im Hintergrund der Musik zu erahnenden Texte eine tragenden Rolle.“
Die neue Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers ist nicht nur musikalisch ein jeden Augenblick erfüllendes Stück Ewigkeit, sondern auch ein Monument der „Entschleunigung“, in das man sich einhören auf auf das sich der Hörer auch ganz einlassen muss, um es würdigen zu können.