Mit Fragezeichen
„Robert le Diable“ in London – nun als DVD.
Am 6. Dezember 2012 gab das Royal Opera House Giacomo Meyerbeers „Robert le Diable“ - und nun ist diese Aufführung auf DVD dokumentiert. Es ist sehr zu begrüßen, daß ein Haus von solchem Ruf sich dieser Oper annimmt, besonders, da vor gut einem Jahr endlich die Edition der Werke Giacomo Meyerbeers mit gerade dieser Oper eröffnet worden ist. Nun gab es bereits 1999 an der Berliner Staatsoper eine erste Aufführung nach diesem Material, musikalisch hervorragend präsentiert durch Marc Minkowski, leider haben die großen Produzenten der Tonträger damals abgewinkt: Kein Interesse! In London war von Anfang an geplant, die Produktion auch aufzuzeichnen. Dies war ein löbliches Unterfangen, zumal die Produktion auf der Grundlage des Aufführungsmaterial nach der historisch-kritischen Ausgabe des Ricordi-Verlags erarbeitet werden sollte. Aufgeboten war eine hervorragende Sängerbesetzung – Diana Damrau, Bryan Hymel, Marina Poplavskaya, John Releya, Jean-François Borras, Nicolas Curjal, bis in die Nebenrollen wohlklingende Namen. Mit der Besetzung der Isabelle ergaben sich dann die ersten Schwierigkeiten, es mußte mehrfach umbesetzt werden. War es ein Unstern, der über dieser Produktion schwebte? Ein kleines, ganz kleines Zeichen zeigte sich bereits in der ersten Ankündigung. Die Oper heißt nach Meyerbeers ausdrücklichem Wunsch „Robert le Diable“ - der „Diable“ ist lediglich ein unerwünschter Beiname, Robert ist beileibe kein Teufel. In London hieß die Oper phonetisch gleichlautend „Robert le diable“. In der neuen Ausgabe wurde auf diese Lesart hingewiesen und der Titel gegenüber früherer Schreibweise korrigiert. Eine Marginale, freilich, wenn sie nicht als böses Omen für diese Aufführung gesehen werden will. Denn nach der neuen Ausgabe wird hier nicht gespielt und inszeniert!
Bereits 1985 hatte die Pariser Oper eine Produktion des „Robert le Diable“ gezeigt, die vor allem wegen der gesanglichen Leistung von Samuel Ramey als Bertram Beachtung verdiente. Allerdings wurden hier empfindliche Kürzungen vorgenommen. Streichungen zerstören gerade bei Meyerbeer die vom Komponisten aufgebaute Spannung; eine gewissenhafte Aufführung wird so wenig wie möglich davon Gebrauch machen, schon um die notwendige Balance der nicht gerade kurzen Akte zu halten. Zeitliche Länge bedeutet ja nicht zwangsläufig „Langeweile“; im Gegenteil kommt Langeweile dann auf, wenn die Zeit nicht in der rechten Weise gefüllt ist.
Und nun hörte man in London exakt die Strichfassung der Pariser Oper von 1985 mit allen großen und kleinen Fehlern, die in der neuen Ausgabe korrigiert worden sind - noch erweitert durch den Wegfall des Balletts im zweiten Akt! Welch eine Chance hätte sich gerade in London ergeben mit dem vorzüglichen Ballett des Royal Opera House! Leider stimmte so auch die berühmte Nonnenszene des dritten Aktes nicht; nach dem Erwachen der sündigen Nonnen und dem Bacchanal, das in London zweifellos hervorragend getanzt wird, hätte in drei großen Nummern eine subtile Verführung des Robert ansetzen müssen, gekrönt von der Solonummer der Äbtissin Helene (sie, die in der Uraufführung mit Marie Taglioni besetzt war, taucht weder in der Besetzungsliste noch auf der Bühne auf), die mit einem – auch so komponierten – Kuss endet, bevor die anmutigen Tänzerinnen sich in höllische Dämonen verwandeln. Der Tanz der Nonnen blieb so hinter den Vorstellungen der Autoren weit zurück. Diese Szene – wunderbar dokumentiert durch die Bilder von Edgar Degas - war stilbildend und Vorbild für zahllose Choreographien in der Folge. Davon ist hier kaum etwas zu erahnen.
Warum gibt man einen so empfindlich gekürzten „Robert“? Was ist von einem musikalischen Leiter zu halten, der offensichtlich ohne eigene Idee eine ungenaue musikalische Version übernimmt, obwohl ihm der neuste Stand der Meyerbeerforschung und -praxis vorliegt? Das Orchester ist zweifellos in Höchstform, aber es kann sich nur korrekt entfalten, wenn die rechte Anweisung erfolgt. Es fehlen die so dringend nötigen, geschärften Töne, wie sie durch hunderte von dezidierten Vortragszeichen in der kritischen Ausgabe dokumentiert sind. Temposchwankungen, falsche Dynamik, fehlendes Stilbewußtsein - es ist schwer zu beschreiben, aber man höre nur einmal in den technisch unvollkommenen Mitschnitt der Berliner Produktion von 1999! Das beginnt bereits mit den ersten Takten der Pauke; mit weichen Schlegeln bedient, bleibt das Klangbild eher dumpf; mit harten dagegen ist „die Hölle sofort gegenwärtig“. Der Komponist schreibt für die folgenden Takte und das Höllenmotiv bewußt Ophicleiden für die tiefen Blechbläser vor. Hier waren es Tuben, die nun gar nicht zu dem erwünschten Klangbild führten. Ein weiteres Beispiel aus dem fünften Akt: Beim Verlesen des Testamentes der Mutter sind zwei „Trompettes à clef“ vorgesehen, die „aus dem Souffleurkasten“ , also wie aus weiter Ferne zu hören sein sollen; in London knallt das harte Trompetenblech ungedämpft aus dem Orchestergraben. Das ist nicht nur gegen den Willen des Komponisten, der lange an dieser Stelle laboriert und ursprünglich sogar Bratschen vorgesehen hatte, sondern ergibt auch für die Szene einen ganz unverständlichen Eindruck: Trompeten für die Stimme der Mutter aus dem Grab?
Da man sich offensichtlich einer alten Fassung bediente, entfallen auch einige Teile, die mit der Neuausgabe angeboten werden: Zunächst ist da die sogenannte „Mario-Arie“ zu Beginn des zweiten Aktes. Über diese Nummer, ein „Sängerfressen“, kann man unterschiedlicher Ansicht sein; es ist jedenfalls eine Alternative zum hier gebotenen Beginn und wäre mit Brian Hymel ideal besetzt gewesen! Das Finale dieses Aktes stellt in der Neuausgabe dann die vom Komponisten gewollte Szene wieder her: Alice wartet schmerzhaft auf das Erscheinen Roberts, Bertram beschließt die Szene: „Robert, c'est dans mes bras!“ Die in London gebotenen Takte sind dagegen Wiederholungen der „letzten Takte des Chores ohne die Sänger“, wie der Komponist auf einem eingelegten Zettel schreibt, die also gar nicht im Autograph existieren. Die Originalfassung, ist zweifellos wesentlich theatralischer: Der Jubelchor bricht abrupt ab, die beiden Kämpfer um Roberts Seelenheil stehen sich zum ersten Mal gegenüber, Alice in Sorge um Robert, Bertram seinen Triumph genießend.
Im fünften Akt hat Bertram vor dem großen Schlußterzett noch eine Szene, in der er sich als Roberts Vater zu erkennen gibt. Dazu existieren drei Versionen; in London gibt es die uninteressanteste! Warum hat man sich nicht für die beste Lösung entschieden?
Und beim Szenischen? Der doch sehr verdiente Regisseur Laurent Pelly bietet eine Lösung, die zumindest den Blick auf das Werk nicht verstellt. Die Höllenszene des dritten Aktes bleibt in Erinnerung! Aber im fünften Akt muß man erkennen, daß das Stück mit seinem Anliegen nicht ernst genommen wird. Die szenische Lösung, Bertram vor einem Papiernen Höllenrachen singen zu lassen, in den er sich dann verkriecht, während Alice auf einer wackelnden Wolkenkulisse hereingerollt wird, erntete beim Londoner Publikum Gelächter. Die Kamera ist da sicherlich sanfter... Aber damit entlarvt sich auch des Disneyland-Mittelalter der ersten Szenen. Vielversprechend das Erscheinen des Bildes vom Erzengel Michael zu Beginn – Meyerbeer wollte ihn ursprünglich sogar leibhaftig auftreten lassen – in der Pose des Siegers über Satan. Hier wäre eine Analogie im Schlußterzett angebracht; aber es war wohl alles nur ein Spiel?
Sänger und Darsteller, besonders erwähnt sei der großartige Chor, waren durchaus in der Lage, die nicht unerheblichen Schwierigkeiten ihrer Partien zu meistern. Umso mehr tut es weh, daß sie sich gesanglich nicht nach Meyerbeers Wunsch entfalten können. Hier ist eine Chance vertan, das Werk Meyerbeers nach der Berliner Aufführung erneut in seiner Qualität vorzuführen. Die Londoner Produktion ist gemeinsam mit der Oper Genf entstanden, dort sollte Minkowski dirigieren. Die Übernahme in Genf wurde abgesagt! Vielleicht läßt die DVD den Grund dafür erahnen?