Referenzeinspielung der "Unvollendeten"
Die CD verbindet zwei in ihrem Charakter ganz unterschiedliche Sinfonien der Frühromantik. Die 1822 entstandene, erst 1865 uraufgeführte, hochemotionale h-moll-Sinfonie Schuberts ("Unvollendete") sowie die 1832/33 komponierte, tänzerisch-heitere 4. Sinfonie ("Italienische") von Mendelssohn-Bartholdy. Sinopoli setzt mit dem Philharmonia Orchestra bei der "Unvollendeten" nahezu unerreichbare Maßstäbe. Er wählt vor allem im 1. Satz ein langsameres Tempo als üblich und nutzt dies zu einem Spannungsaufbau, der sich nicht mehr steigern lässt. Schon das ruhige Einleitungsmotiv, das auch nachher die Durchführung dominiert, versetzt den Hörer in eine Anspannung, die sich in der Durchführung fast ins Unerträgliche steigert. Das crescendo in der Durchführung mit der exzellenten Präsenz von Celli und Kontrabässen lässt sich nicht dramatischer gestalten als bei Sinopoli (unbedingt mit einem exzellenten Kopfhörer hören). Der sich nach einer kurzen Entspannungsphase anschließende Fortissimo-Teil (der weder das Haupt- noch Nebenthema, sondern das Einleitungsthema aufgreift), kommt mit einer wohltuenden Wärme daher. Die Spieldauer des 1. Satzes beträgt bei Sinopoli 16:32 Minuten. Karl Böhm brauchte in seiner 1973 bei der Deutschen Grammophon veröffentlichten Einspielung mit den Berliner Philharmonikern gerade mal 11:27 Minuten. Aber: Jede Sekunde, die Sinopoli länger braucht, ist optimal investiert, weil es ihm gelingt, die Substanz der Partitur vollkommen auszuschöpfen. Und diese Partitur ist für meinen Geschmack die Größte der gesamten romantischen Sinfonik. Der zweite Satz dauert bei Sinopoli mit 12:31 Minuten nur eine Minute länger als bei Böhm. Auch hier gelingt Sinopoli eine wunderbar elegische, aber gleichwohl anhaltend packende Interpretation.
Die "Italienische" wird ebenfalls mit maßvollem Tempo vorgetragen. Die lebhaften Ecksätze behalten trotzdem ihren heiter-tänzerischen Charakter. Wirklich spürbar wird die Zurückhaltung im 3. Satz. Dort erhält die Stimmung durch das langsamere Tempo einen Schuss "Sehnsucht", was der Intention Mendelssohns sehr entgegenkommt. Im Saltarello herrscht dann auch bei Sinopoli die Ausgelassenheit, die diese unkomplizierte Sinfonie so großartig macht. Insgesamt eine Referenz-CD, die in keiner Klassik-Diskothek fehlen sollte. Der Klang der 1984 erstmals veröffentlichten Aufnahme ist gut, das Booklet ebenfalls. Schön wäre gewesen, durch Notenbeispiele den hochinteressanten Aufbau des Sonatensatzes der Unvollendeten anschaulicher zu erläutern. Es lohnt, in die Achitektur dieses Werkes genauer hineinzuschauen.