Woodstock und kein Ende
Die Generation der Woodstock-Ära (der Rezensent zählt dazu) verzehrt inzwischen ihre mehr oder weniger üppigen Renten oder Pensionen. Sie bildet damit eine zentrale Zielgruppe der Musikindustrie, der ungeniert immer wieder irgendwelche großartigen Kompilationen, Radio-Mitschnitte, Alternative Takes und bis dato unveröffentlichte Raritäten im CD-Format oder gar auf Vinyl angepriesen werden, gerne in üppiger Sammler-Aufmachung verpackt – die Vermarktung der klassischen Beatles-Alben „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, „The Beatles“ (Weißes Album) oder „Abbey Road“ möge als an-schauliches Beispiel dafür dienen (womit nichts gegen deren musikalische Ausnahmequalität gesagt sein soll).
Nun also – wenn auch in (enttäuschend) dürftiger Aufmachung – ereilt es Creedence Clearwater Revival (CCR). Auf dem klassischen Woodstock-Live-Album (der Soundtrack zum 1970 erschienenen Film) wurde ihr Auftritt nicht veröffentlicht, da es angeblich Differenzen zwischen dem CCR-Label Fantasy und Atlantic Records gegeben hatte (so die Aussage im von Mike Evans und Paul Kingsbury herausgegebenen Bildband „Woodstock“, 2009, S. 147). Bandleader John Fogerty selbst war vom Auftritt der Band ebenfalls nicht überzeugt, als es um die Berücksichtigung des Mitschnitts von „Bad Moon Rising“ für den Film ging: „Das Publikum nicht euphorisch, der Gig nicht grandios genug, da winkt Fogerty lieber ab […]“ (Frank Schäfer: Woodstock 69. Die Legende. St. Pölten: Residenz Verlag 2009, S. 114).
Überhaupt kommt Woodstock in John Fogertys Memoiren nur als eine längere Randnotiz vor. Die Darbietung seiner Gruppe beschreibt er folgendermaßen: „Es wurde immer dunkler und später. Die Acts, die um sechs Uhr auf der Bühne hätten sein sollen, warteten um neun immer noch auf ihren Auftritt. […] Wir sollten nach den Grateful Dead auftreten. […] Alles, was ich noch weiß, ist, dass wir sehr, sehr spät auftraten. […] Ich blickte etwas genauer hin, weil man von der Bühne ja wirklich nur die ersten vier Reihen oder so sehen konnte […]. All diese ineinander verschlungenen Körper, halb nackt und verdreckt. Sie sahen wie tot aus. Den Grateful Dead war es tatsächlich gelungen, eine halbe Million Menschen einzuschläfern“ (John Fogerty: Mein Leben – Meine Musik. (deutschsprachige Ausgabe) Höfen: Hannibal Verlag 2016, S. 209 f.).
Grateful Dead hatten „[…] sich sich durch einige ihrer wohlbekannten Hits [gekämpft], immer wieder unterbrochen durch Probleme mit der Tontechnik, falsche Einsätze und lange Pausen. Einmal vergingen zehn Minuten zwischen zwei Songs, in denen sie miteinander tuschelten. […] Selbst eingeschworene Fans der Band […] waren sich einig, dass dieser Auftritt von Grateful Dead ein Armutszeugnis war. Aber es entsprach der chaotischen Stimmung in Woodstock“ (Evans/Kingsbury a. a. O., S. 143). Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass auch kein einziges Stück von Grateful Dead auf den Woodstock-Platten veröffentlicht worden ist (es mag auch die distanzierte Haltung der Band zum Musikbusiness dafür verantwortlich gewesen sein). Eigentlich schade darum, denn so wäre Fogertys Frust möglicherweise besser verständlich.
Was nun aber CCR betrifft: 1994, zweieinhalb Jahrzehnte nach Woodstock wurden auf dem 4-CD-Album „Woodstock. Three days of peace and music“ (Atlantic) doch vier der insgesamt elf CCR-Titel herausgebracht, welcher bzw. wessen Sinneswandel sich auch immer dahinter verborgen haben mag. Und nun zum 50. Jahrestag endlich der gesamte Mitschnitt, laut Aufkleber auf der Frontseite des Covers „the long-awaited release of this legendary 1969 perfor-mance“, darunter Hits wie „Born on the bayou“, „Bad moon rising“ und „Proud Mary“. Fogerty wagt sich auch an „I put a spell on you“, den vielfach interpretierten Standard von Screamin‘ Jay Hawkins, an dem sich so unterschiedliche Musiker/innen wie Arthur Brown, Annie Lennox, Nina Simone und Pete Townshend versucht haben und löst die Aufgabe ganz anständig. Die CCR-Hits sind ohnehin nicht totzuspielen (man höre mal nur in „Proud Mary“ rein). Ob die beiden jeweils über zehnminütigen Schlussnummern „Keep on chooglin‘“ und „Suzie Q.“ auf mehr als das Doppelte ihrer üblichen Spielzeit ausgedehnt werden mussten, sei dahingestellt, aber wir befinden uns eben in Woodstock.
Die Publikumsreaktionen sind übrigens bei Weitem nicht so reduziert, wie es nach Fogertys Aussage zu vermuten wäre. Die CD dokumentiert mehr als nur freundlichen Applaus – es müssen doch immer noch etliche Leute wach gewesen bzw. wieder aufgewacht sein. Auch ist die Aufnahmequalität unter Berücksichtigung der obwaltenden Umstände durchaus bemerkenswert (bzw. die hier vorgeführte Kunst der Nachbearbeitung). War es seinerzeit noch wohlfeil, Kritik an der Audioqualität der Vinyl-Langspielplatten zu üben (was aber niemanden daran hinderte, das Album als Feten-Kracher aufzulegen, besonders gerne Ten Years After mit „I’m going home“), so mag man sich einen Moment nur vor Augen führen, dass man das Jahr 1969 schrieb und dass Woodstock ohnehin eine Anhäufung von Widrigkeiten war, was eben auch für die Technik galt.
Der Vollständigkeit sei darauf hingewiesen, dass der CCR-Katalog nach wie vor zwei andere Live-Aufnahmen verzeichnet, nämlich „The concert“ (von 1970) und „Live in Europe“ (Aufnahmen von einer Europa-Tournee 1971), jeweils mit 14 Songs in ähnlicher Zusammenstellung. Der Rezensent schätzt den Sammlerwert des nun erschienenen Woodstock-Mitschnitts aber deutlich höher ein als diese beiden anderen Live-Alben, bei Bedarf könnte man ansonsten seiner Ansicht besser gleich die Studio-Aufnahmen wählen – schließlich gibt es ja gute Hit-Compilationen von CCR und John Fogerty.