Das Leben in der Türkei
Wenn man sich vorstellt, wie viele türkische Menschen in Deutschland leben und vor allem wie viele Jahrzehnte schon, dann kann es den Deutschen erstaunen, wenn er sich in Bücher aus der Türkei vertieft, wie wenig ihm von der Vielfältigkeit der türkischen Kultur bekannt ist. Es könnte auch anders formuliert werden, nämlich wie der ausschließliche Brennpunkt auf das Schreckliche, das in den letzten Jahren in diesem Land geschehen ist, - zumindest aus der Perspektive eines demokratischen Lebens - gerade die Mannigfaltigkeit des Lebens auch dieses Landes ausblendet. Bei einem Buch, das im Gefängnis geschrieben wurde, könnte man glauben, daß es einen solchen Fokus noch unterstützt.
Das Überraschende an diesem Buch jedoch ist, daß es das gerade nicht tut. Die Rechtlosigkeit der Andersdenkenden, die darin geschildert wird, ist so eingebunden in die Darstellung der Normalitäten des Alltagslebens, daß zumindest eine Ahnung entsteht, wie Völker Diktaturen akzeptieren können. Es ist letztlich wohl auch eine Überlebensstrategie. Und über derartige Überlebensstrategien berichtet Ahmet Altan in reichhaltiger und beeindruckender Weise, damit er seine Haft, die eigentlich keinen Grund hat, ertragen kann.
Darüber hinaus berichtet er noch über den Ablauf seiner Aburteilung. Diese Vorkommnisse, bei denen die bloße Denunziation schon zu einer Inhaftierung und allein die Auslegungen von Äußerungen zu einer gerichtlichen Verurteilung ausreichen, erinnern an die schlimmsten stalinistischen Zeiten, die es Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auch in einem Teil von Deutschland gegeben hat. Doch es ist die weltgeschichtliche Ironie einer jeden Diktatur, die nie von Dauer ist, selbst wenn sie als ewig existierende ausgerufen wird, daß sie in ihren Handlungen, Andersdenkende mundtot zu machen und damit aus dem Gedächtnis des Volkes auszulöschen, gerade mit ihrem Unrecht dafür sorgen, daß diese für lange Zeit in Erinnerung bleiben. Denn deren Einkerkerung ist Mahnung für die nachfolgenden Generationen, daß jegliche Art der Willkürherrschaft das wesentlichste Grundbedürfnis des Menschen verletzt, die Freiheit seines geistigen Eigentums, - also das Einzige, was uns erst zu Menschen werden läßt.
Und ein Humanist, wie es Ahmet Altan ist, hat es in jedem Fall verdient, mit seinen Gedanken im zukünftigen Gedächtnis bewahrt zu bleiben.