Ein Fall von beinahe gelungen
Lieber mystisch oder lieber bodenständig mit integriertem österreichischen Katholizismus? Das ist die Bruckner-Grundfrage. Bis inklusive der Sechsten ist die bodenständige Interpretation durchaus akzeptabel - und die bedienen Poschner und die beiden Orchester sehr gut; die Körnigkeit des Klanges passt, die Betonung des Rhythmus, die Hervorhebung der Bläser und die (mitunter ziemlich) flotten Tempi funktionieren in diesem Zusammenhang in der Regel hervorragend, am besten in der Ersten, der (entromantisierten) Vierten und der Sechsten, die hier nahezu wie ein Werk des 20. Jahrhunderts klingt.
Weniger funktioniert es für mich, abgesehen von den schnellen Sätzen, in der Achten und Neunten, wo die langsamen Sätze mir allzu flott genommen scheinen. Misslungen ist die Siebente, wo Poschner nach dem zweiten Satz offenbar nur noch schnell zum Schluss kommen will.
Zu der Gesamtheit der Fassungen: Wer alle haben will, wird des Suchens enthoben. Allerdings wird wohl kein Dirigent von jeder Fassung gleich überzeugt sein, und so scheint mir auch Poschner hie und da nur einen Job zu machen (z.B. Erstfassungen der Vierten und Achten, Zweifassung der Ersten).
Mit einer Behauptung gilt es noch aufzuräumen: Poschner ist nicht der erste, der alle Versionen eingespielt hat. Es gibt / gab eine Aufnahme der kompletten Orchesterwerke Bruckners unter Gennadi Rozhdestvenski auf Melodyia, bei der auch die frühen Orchestersätze enthalten waren. Die ausgezeichneten Interpretationen des Dirigenten litten allerdings unter dem überscharfen Blechbläserklang des russischen Orchesters.
Fazit: Poschners Aufnahme ist eine hervorragende Ergänzung für alle, die Bruckners Varianten vergleichen wollen. Geht es nur um die Symphonien ohne Varianten-Diskussion, greift man nach wie vor besser zu Jochum / EMI/Warner, Wand oder zu Skrowaczewski und/oder für die Erstfassungen zu Inbal.