geht unter die Haut und lässt kein Auge trocken
"Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" ist in Briefform verfasst und das auf eine ganze spezielle Weise. Im ersten Teil des Buches schreibt nämlich ausschliesslich Pheobe ihrer grossen Schwester April, die wegen Magersucht in der Klinik liegt. Sie ist so krank, dass Phoebe sie nicht besuchen darf und so schreibt sie April regelmässig und erzählt ihr alles, was ihr durch den Kopf geht: Viele Nebensächlichkeiten aus der Schule, aber vor allem auch von den Veränderungen in der Familie.Ich muss zugeben, dass mir der Einstieg ins Buch etwas schwer gefallen ist, denn Phoebes Schreibstil ist sehr eigen. Zum einen schreibt sie sehr kindlich und dann schreibt sie wieder derart philosophisch, haut Weisheiten raus und nimmt ständig die Wörter auseinander, um sie sich dann wortwörtlich zu erschliessen. Lange konnte ich mir nicht vorstellen, dass dies aus der Feder einer Grundschülerin stammen soll.Nach den ersten hundert Seiten hat mich Lilly Lindner jedoch total in ihren Bann gezogen. Trotzdem konnte ich nie wahnsinnig viel auf einmal lesen, denn Phoebes Briefe werden immer beklemmender und auch mir wurde das Herz immer enger.
Im zweiten Teil kommt endlich auch April zu 'Wort' und schon ihr erster Brief liess mir das Blut in den Adern gefrieren. Immer stärker kommt der Konflikt zwischen den beiden Schwestern und ihren Eltern zum Tragen. Beide sind wohl sprachlich 'hochbegabt' und fühlen sich von Mama und Papa nicht verstanden. Und Mama und Papa tun dies auch nicht - vor allem verstehen sie nicht, warum ihre beiden Töchter nicht wie 'normale' Kinder sein können.Aprils Briefe sind noch viel düsterer, beklemmender als die von Phoebe. Vom Schreibstil her sind sie sehr ähnlich, nur die kindlichen Gedankengänge fehlen völlig. Aber auch sonst merkt man, dass die beiden Schwestern aus dem gleichen Holz geschnitzt sind und die eine der Rettungsanker der anderen ist.
Ich weiss gar nicht, wann mich das letzte Mal ein Buch dermassen beschäftigt, mich dermassen mitgenommen hat. Ich konnte nie wahnsinnig lange an einem Stück lesen, sondern brauchte immer wieder Zeit zum Verarbeiten. Und vor allem brauche ich jemanden zum Reden.Die Thematik der Magersucht steht natürlich im Zentrum, doch auch die Verhältnisse innerhalb der Familie spielen eine tragende Rolle. Vor allem die Beziehung zwischen den Eltern und ihren beiden Töchtern löst Unverständnis und Diksussionen hervor. "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" ist zu einem Teil autobiographisch und strotzt nur so vor düsteren Emotionen. Angst, Verzweiflung, Trauer, aber auch Wut schlagen über dem Leser zusammen und lassen ihn betroffen und erschüttert zurück.
Nach einem etwas schwierigen Start konnte mich Lilly Lindern dann mit ihrem jüngsten Werkt voll und ganz überzeugen. Es ist aussergewöhnlich und vor allem vom Schreibstil her ausserordentlich - emotional und philosophisch. Für mich steht nun fest, dass ich auch "Splitterfasernackt" lesen muss.
Fazit:
erschütternd, dramatisch, einfach nur traurig
Lilly Lindner lässt in "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" die zwei Schwestern Phoebe und April einen Abschnitt ihres eigenen Lebens erzählen. Die Briefe der beiden sind äusserst emotional, gehen direkt unter die Haut und lassen kein Auge trocken.
So ist das Buch wirklich schwere Kost, doch auch sehr eindrücklich. Eine Leseerfahrung, die man ganz bestimmt nicht mehr so schnell vergisst.