Eine Ode an die Tür
„[…] zum Sehen braucht man Zeit, viel Zeit, und ein bestimmtes Licht, das nicht immer zur Hand ist; ein Licht, das alles in Klarheit taucht und doch nicht stört; kein zu glänzendes Licht, aber auch kein zu stumpfes, ein Licht, das die Seiten aufblättert, ohne sie allzu schnell umzuwenden.“ (aus: Die Fabriken, S. 53)
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Schritte nähern sich; leise Stimmen dringen zu mir durch. „Was sich wohl hinter der Tür befindet?“ Ich spüre, wie sich ein Auge meinem Schlüsselloch nähert. „Tretet doch ein“, ermuntere ich die Fragenden und öffne mich.
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Ähnlich wie die Personen hinter der sich selbständig öffnenden Tür im ersten Absatz, habe ich mich als Leser gefragt, was sich hinter den Türen bzw. den Schlüssellöchern in Jonas-Philipp Dallmann´s Erzählband „Die milchfarbene Haut der Türen“ (erschienen im Juni 2019 im VHV-Verlag) verbirgt. Nun, ich musste zwar jede der 20 Türen (= 20 Geschichten) alleine öffnen, aber je mehr Türen ich öffnete, umso leichter fiel es mir auch.
Die Geschichten lassen die geneigte Leserschaft eintauchen in surreale, zum Teil kafkaeske Welten (als Reminiszenz gilt hier besonders „Die graue Ebene“, die genauso auch vom Meister selbst hätte stammen können – hier gebührt Jonas-Philipp Dallmann besonderer Respekt!). Auch vor fantastischen Welten („Bor oder Die elfte Stadt“) wird nicht Halt gemacht. Neben den in jeder Geschichte verewigten Türen (oder auch mal Toren, was ja ebenfalls eine Art Tür ist *g*), spielt auch immer das Thema Architektur eine Rolle, was nicht weiter verwundert, da der Autor gelernter Architekt ist. Das Thema spiegelt sich in präzisen Beschreibungen von alten Fabriken („Die Fabriken“), den Stimmungen von Hochhäusern („Aufräumen“), aber auch urigen Häusern („Die milchfarbene Haut der Türen“) wider.
Die Charaktere in den Geschichten (viele in der Ich-Form, aber auch auktorial erzählt) sind Leute wie Du und Ich, Eigenbrötler, Leute von der Straße – eigentlich lässt der Autor hier jede Gesellschaftsschicht sprechen, was ein zusätzlicher Reiz ist, die Geschichten zu lesen.
Manch eine der Erzählungen lassen die geneigte Leserschaft schmunzeln, lassen einen innehalten, reflektieren. Manch eine endet so abrupt, dass man sich vorkommt, als wenn man gerade in einem dunklen Raum vor eine Mauer geprallt ist, manchmal enden sie auch völlig anders als man sich das als Leser*in evtl. gerade „zurechtgedacht“ hat – es sind also einige Überraschungen enthalten in den 20 Erzählungen. Der Vorteil, der sich aus diesem Umstand ergibt, ist, dass man das Buch (sofern man auf sprachliche Finesse (mit der hier weiß Gott nicht gegeizt wird!) Wert legt und man generell Zugang zu ihnen gefunden hat) öfter in die Hand nimmt – ich bin mir sicher, man entdeckt jedes Mal eine neue Seite!
Von mir bekommt „Die milchfarbene Haut der Türen“ eine definitive Leseempfehlung und ich freue mich auf weitere Literatur von Jonas-Philipp Dallmann! 5* deluxe!
„[…] beschäftigt mit einem Buch, das ihren Verstand über sein Maß hinweg forderte, aber das Nichtbegreifen war köstlicher als alle Klarheit des Verstehens, war ein Vorausahnen und Hinüberblicken zu etwas anderem, das auf sie zu warten schien, das sich zwar nie ergreifen ließ, das aber vor ihr schwebte wie Früchte an einem fernen Baum.“ (aus: Johanna Böhme, S. 151)