Gemischte Gefühle
Eine Neueinspielung des Requiems von Berlioz ist für mich immer eine aufregende Erfahrung: zu gut kenne ich dieses Werk seit vielen Jahren, zu gründlich habe ich die Partitur (die maßgebliche, kritische Ausgabe der New Berlioz Edition Band 9) studiert.
Mit großer Vorfreude und Erwartung habe ich heute die brandneu erschienene Einspielung unter der Leitung des erfahrenen Berlioz-Dirigenten John Nelson mit dem mittlerweile die Tenorpartien der Berlioz-Kompositionen weltweit quasi in Monopolstellung präsentierenden Michael Spyres gehört und gesehen (es ist ja eine sehr lobenswerte Kombination von CD und DVD mit dem vollständigen Konzert).
Zuerst ein großes Lob an die Sänger und Sängerinnen der beiden Chöre: Berlioz macht es sowohl dem Chorsopran als auch vor allem den Chortenor alles andere als leicht. Und doch haben sich alle Choristen und Choristinnen aufs Schönste ihrer Aufgabe entledigt.
Das Orchester wird von John Nelson mit relativ zügigem aber nie gehetztem Tempo, das auch angemessen auf die hallige Akustik des weiten Raumes der St. Pauls Cathedral Rücksicht nimmt, geleitet und bietet insgesamt eine gute bis sehr gute Leistung. Leider sind die minutiösen Besetzungsangaben der Partitur bei den berühmt-berüchtigten 4 separaten Blechbläsergruppen sowie bei den Streichern des Hauptorchesters nicht realisiert worden. Der Grund mag in organisatorischen, finanziellen oder auch räumlichen Problemen liegen. Und anerkennend muss gesagt werden, dass ich Kraft und Monumentalität bei dieser Einspielung trotz deutlich reduzierter Besetzung (Blech und Streicher) nie vermisst habe.
Die gefürchtet heikle Solotenorpartie ist bei Michael Spyres in guten Händen. Sieht man von dem nicht ganz gelungenem ersten hohen B des zweiten "Durchgangs" des Sanctus ab, versteht man, warum Herr Spyres auch gleichermaßen gut den Enée, Faust und Cellini singt. Ich habe ihn selbst mit Genuß mehrfach auf dem Festival Berlioz in La Côte Saint André gehört.
Nun aber komme ich zu dem Anlass, der eigentlich mich diese Kritik verfassen ließ: Anbetracht des berechtigten Renommees des Dirigenten als Streiter für die Sache "Berlioz" (und in dieser Aufnahme zeigt er ja oft, dass er mit Geschmack und musikalischem Einfühlungsvermögen alle Mitwirkende zu hoher Leistung führt) bedauere ich umso mehr eine überaus irritierende Tatsache, sei sie eine Eigenmächtigkeit von John Nelson, sei sie eine technische Fehlleistung von Produktion und/oder Schnitt des produzierenden Unternehmens Erato/Warner Brothers bzw. Parlophone Records Limited.
Es handelt sich um eine Passage im Sanctus des Requiems. Ich möchte zum besseren Verständnis kurz den Aufbau dieses Satzes erläutern. Dieses Sanctus besteht aus 2 unterschiedlichen Abschnitten: zuerst das eigentliche Sanctus mit dem Solotenor, dann vom Chor gesungen eine Hosanna-Fuge. Diese beiden Abschnitte werden fast wortwörtlich wiederholt: Im "2." Sanctus ergänzen unter anderem leise Beckenschläge den Hymnus des Tenors, die "2." Hosanna-Fuge wird nicht allein von den Streichern begleitet wie im ersten Durchgang sondern zusätzlich von allen Holzbläsern, den Hörnern und weiteren Blechbläsern.
In der vorliegenden Einspielung nun - und das betrifft sowohl die CD als auch die DVD - hört man in den Takten 81 - 91 der "1." Hosanna-Fuge, dass der Chor nicht allein von den Streichern begleitet wird - wie die Partitur fordert -, sondern man hört deutlich die Hörner der Takte 174 - 183 des "2." Durchgangs des Hosanna-Fuge. Möglicherweise spielen dort auch die oben genannten Holzbläser etc.. Die Fuge endet, der "2." Durchgang des Sanctus und der korrekt aufgeführte "2." Durchgang der Hosanna-Fuge folgen. Auch hier kann man die Hörner - die hier ja auch hingehören - deutlich hören und so den Höreindruck der fehlerhaften "1." Hosanna-Fuge überprüfen: In beiden Durchgängen klingen - nein: SIND - die genannten Takte (81 - 91 und 174 - 183) identisch. (Leider lässt die Kameraeinstellung es nicht zu, die fragliche Stelle auf der DVD auch optisch zu beurteilen.)
Dies ruiniert nicht nur diesen einen Satz des Requiems. Die ganze Aufführung und Einspielung gerät dadurch zur Makulatur. Es handelt sich ja nicht einfach um einen falschen Ton eines Instrumentes, ein vom Dirigenten ungeschickt gewähltes Tempo, die Indisposition eines Sängers, oder was es sonst an kleineren oder größeren Makeln von Musikaufführungen geben mag. Hier wird vielmehr eine Partitur zerstört aus Gründen, über die nur spekuliert werden kann. Ist bei der Produktion von CD und DVD beim Schnitt die große Ähnlichkeit beider Durchgänge der Hosanna-Fuge dem Produzenten zur Falle geworden? Oder könnte man es für denkbar erachten, dass John Nelson in eigenmächtiger Absicht die Hörner/Bläser in die "1." Hosanna-Fuge hineingenommen hat? Das Erste wäre peinlich, das Zweite deklassierend...
Es gibt viele sehr überzeugende Momente in dieser neuen Aufnahme des Berlioz-Requiems. Wie bitter, dass dieses eine ebenso kurze wie katastrophale Detail nur eine Empfehlung zulässt: nicht kaufen!