26-jährige Anna Bolena, historisch korrekt...
Donizettis ANNA BOLENA ist eine der vertracktesten Sopranpartien im italienischen Fach, und genau deshalb ist es so schwer, sie gut zu besetzen. Einige Sängerinnen haben sich der Herausforderung gestellt, ohne an den enormen Anforderungen gänzlich zu scheitern: zunächst die Callas, die das Werk „wiederentdeckt“ hat, gefolgt von Leyla Gencer und der Caballé. In den 70er Jahren kamen Beverly Sills, die Sutherland und Renata Scotto hinzu, später Dimitra Theodossiou und leider auch Katia Ricciarelli, schließlich die Gruberová (die die Partie vielsagend als „ihre Brünnhilde“ bezeichnete) und Anna Netrebko. Nicht zu vergessen ist die griechisch-russische Sopranistin Elena Souliotis (1943 – 2004), die für meinen Geschmack über eine der drei glanzvollsten Stimmen des 20. Jahrhunderts (neben Callas und Nilsson) verfügte und doch letztendlich gleichzeitig eine der schmerzlichsten Enttäuschungen dieser Zeit war. Einzelheiten zum kometenhaften Aufstieg und dem gnadenlosen Absturz dieser Prachtstimme mag der interessierte Klassikfan in meiner Rezension zu Verdis NABUCCO (1964) nachlesen. Die Einspielung von ANNA BOLENA entstand 1969, die Sängerin war also gerade mal 26 Jahre alt und damit ziemlich genau im Alter des historischen Vorbildes Anne Boleyn zu dem Zeitpunkt, als sie die 2. Gemahlin Heinrich VIII wurde. Stimmlich liegen leider bereits 5 Jahre permanenter Überanstrengung hinter der Sängerin, so dass sie klanglich bereits wie eine Endvierzigerin wirkt (noch eindeutiger ist dies zu hören bei ihrer letzten Studio-Einspielung aus dem Jahre 1971: MACBETH von Verdi – aber da passte es wenigstens besser zur Rolle). Souliotis singt die Eingangsszene und –arie sauber vom Blatt und gefällt dabei durchaus mit ihrer geraden und schnörkellosen Stimmführung. Am Ende von „Io sentii sulla mia mano“ gelingt ihr eine zauberhafte Phase, eine aufsteigende Passage wundervoll gleichmäßig gesungener Töne, gekrönt von einem Piano und einem ebenso kunstvollen Abstieg. Ansonsten ist das Klangbild ihrer Stimme im 1. Akt überwiegend wuchtig, manchmal ein wenig zu forciert, nicht besonders flexibel und in der Höhe etwas faserig. Obwohl sie bei „In separato carcere“ sehr akzentuiert und mit viel stimmlichem Nachdruck in das dramatische Finale einsteigt, klingt sie während der letzten Takte doch sehr angestrengt und erreicht den geforderten Spitzenton am Ende der Szene nur mit Mühe, wobei sie das Ensemble nicht überstrahlt, sondern gerade noch zu hören ist. Im 2. Akt befindet sich die Stimme der Sängerin in ruhigerem Fahrwasser, die Szene mit dem Chor ist sehr berührend gestaltet und auch das Duett mit Giovanna beginnt sehr belcantesk, steigert sich dann sehr dynamisch und endet fulminant auf dem von beiden Sängerinnen bravourös gesungenen Spitzenton (wobei angemerkt werden muss, dass die Stimmen der Souliotis und der Horne klanglich nicht zueinander passen…). Die vom Komponisten groß angelegten Schlussszene ist in 5 Teile untergliedert: zunächst das einleitende Rezitativ, das von der Souliotis zu resolut und mit großem stimmlichem Überdruck interpretiert wird. Die Verzweiflung, die Resignation und die Traurigkeit, die dieses Rezitativ beinhaltet, hört man viel besser bei Callas und am besten bei Gencer (Aufnahme 1958). „Al dolce guidami“ ist dann aber ganz große Tragik und wird sowohl stimmlich als auch stilistisch einwandfrei interpretiert. Bei „Qual mesto suon?“ sind alle Stimmen zu sehr im Vordergrund, wodurch diese Szene sehr plakativ wirkt. „Cielo, a' miei lunghi spasimi“ ist dagegen dann wieder ganz wundervoll dargeboten, wobei Souliotis mit ganz ruhiger Stimmführung und ohne das geringste Vibrato die Führung übernimmt, ohne dominant zu wirken. Die abschließende Cabaletta „Coppia iniqua“ ist dann noch einmal ganz großes Drama, wobei die Souliotis alle Register ihres Könnens zieht und den Hörer mit ihren Klangwogen und Spitzentönen geradezu überwältigt. Die restliche Besetzung dieser Aufnahme besticht vor allem durch die Leistung des Chores und des Orchesters der Wiener Staatsoper unter der versierten und umsichtigen Leitung des Dirigenten Silvio Varviso. Nicolai Ghiaurov singt makellos, interpretiert aber nur den König nobel und würdevoll – der Wüstling bleibt bei ihm völlig auf der Strecke. Marilyn Horne gibt die Giovanna sehr koloraturgewandt und stimmschön, ist mir aber eine Spur zu dominant und charakterlich zu eindimensional, was die Seymour in der Historie nicht war. John Alexander entledigt sich seiner Aufgabe (Lord Percy) mit Anstand, ist der Partie auch technisch hinreichend gewachsen, lässt aber an Klang und stilistischem Feingefühl zu wünschen übrig. Dankenswerterweise öffnet Varviso viele der sonst üblichen Striche, so dass eine ziemlich vollständige Version der Oper zu hören ist. Auch deshalb eine empfehlenswerte Aufnahme.